Ich habe mich sehr gefreut, dass mein Vortrag "Willkommen im Rattenkäfig" im Netz so viel Resonanz gefunden hat. "So viel" müsste man vielleicht kurz quantifizieren ... Das Video ist derzeit bald 3.000 Mal abgerufen worden, es gab eine Reihe von Leuten auf Twitter, die über die vergangenen Wochen darauf verlinkt haben, außerdem hat sich eine gute Handvoll Blogs damit befasst. Für mich ist das eine erfreuliche Resonanz, grade auf einen recht langen Videobeitrag. Normalerweise sollten Videos im Netz ja nicht länger als eineinhalb Minuten sein, um überhaupt wahrgenommen zu werden.
Am interessantesten ist aber natürlich Kritik. Denn man kann ja über die eigene Arbeit am besten lernen, wenn man den Leuten zuhört, denen die Arbeit nicht gefallen hat. Stefan Schulz hat meinen Vortrag auf dem Blog der Sozialtheoristen mehr oder minder auseinander genommen und wenig gefunden, was ihm daran gefällt. Ich habe ihm versprochen, mich mit seiner Kritik auseinander zu setzen, und das tue ich nun.
Eingangs sollte klargestellt werden, dass Schulz und ich aus unterschiedlichen Geisteswelten stammen. Wenn ich das Mission Statement des Blogs lese, auf dem er publiziert, wird klar, dass er in einer intellektuellen Welt zuhause ist, in der ich mich überhaupt nicht auskenne. Ich kenne nur in äußerst groben Zügen die Grundannahmen, im Rahmen derer sich operative Konstruktivisten bewegen, und ebenso grob bis nicht-existent ist mein Verständnis von manchen Vokabeln, die sie verwenden. Ich habe mich im Rahmen meiner Dissertation zwar mit Wissenschaftstheorie auseinander gesetzt, aber nicht intensiv genug, um wirklich in allen Spielarten zuhause zu sein - letztlich war bei mir das entscheidende Paradigma das der empirischen quantitativen Sozialforschung. Das sind wohl die Einschränkungen, die man machen muss, wenn man seine Dissertation schreibt, während man zugleich am Aufbau eines Start-Ups beteiligt ist.
Zunächst kritisiert Schulz quasi als Vorbemerkung die Form meines Vortrags, er erklärt dazu zweierlei: Zum einen sagt er, dass ich - offenbar entgegen meiner eigenen Annahmen - nicht frei sprechen könne, bzw. dies nicht tun sollte, denn ich würde mich beim Reden in Redundanzschleifen verfangen. Das ist wohl Geschmackssache, ich habe auch ganz andere Reaktionen gehört. Ihm gefällt zweitens nicht, dass ich ein Argument mit mehreren anschaulichen Beispielen illustriere. Und vergreift sich dann komplett im Ton, wenn er mir attestiert, in meiner Art der Vortragsweise Mario Barth zu ähneln. Ich kann mir gut vorstellen, dass es unter Bielefelder Soziologen als absolut unschicklich gilt, einen unterhaltsamen Vortragsstil zu pflegen, der den Zuhörern nicht nur Inhalte vermittelt, sondern dabei auch noch ein gewissen Spaß bereitet. Dafür ist die Kombination "Argument + Geschichten, die das illustrieren" allerdings sehr nützlich. Nur natürlich nicht vereinbar mit der wissenschaftlichen Anforderung, niemals auch nur einzelne Sätze zu sagen, die man nicht direkt im Folgesatz empirisch untermauern kann.
Die Position, dass Vorträge langweilig und wenig praxisnah zu sein haben, solange sie nur fundiert sind, wird ja in Deutschland landauf und landab mit Hingabe und Power Point zu Tode gepflegt. Das führt zu der paradoxen Situation, dass es ganz normal ist, Vortragende aus anderen Ländern (am liebsten aus den USA) für viel Geld einzuladen, damit die dann so sprechen dürfen, wie es sich hier keiner traut. Nicht jeder Vortrag, der einen Punkt machen oder einen Gedanken vermitteln will, muss ein wissenschaftlicher Vortrag sein. Gerade nicht der Vortrag, der in einer Werbeagentur 150 Werbern erläutern möchte, warum die Veränderung der Welt aufgrund des Internets fundamentaler ist, als viele von ihnen vielleicht meinen.
Und damit bin ich beim Hauptproblem von Schulz' Kritik: er lässt sich durch meine Einleitung mit Thomas S. Kuhn in die Irre führen und vergleicht meinen Vortrag zumindest teilweise mit den Anforderungen an ein wissenschaftliches Referat. Für mich ist Kuhn aber nur ein Vehikel, um zu zeigen, dass der Kampf und die Auseinandersetzung mit tiefgreifender Veränderung ein zutiefst menschliches Problem ist, mit dem sich derzeit zwar Medienschaffende auseinandersetzen müssen, das aber die Menschen alle Zeit und sogar Wissenschaftler immer und immer wieder in Verzweiflung und Ratlosigkeit getrieben hat.
Inhaltlich kritisiert er vier Dinge.
- Meine Darstellung der Veränderungen der Medienlandschaft durch das Web (die Reihenfolge der Schritte im Medienschaffen wird verändert, die knappe Ressource ist nicht mehr knapp) kommentiert er mit "Das kann man so sehen", allerdings nur, wenn man "eine gehörige Portion Reduktionismus" betreibe, die der Realität "eventuell nicht gerecht wird." Ist das Ironie? Echter Zweifel? Ich kann ihn beruhigen: natürlich wird ein einfaches Bild, das die Medienindustrie als eine schlichte Abfolge von vier Schritten beschreibt, der Realität nicht 100%ig gerecht. Aber wer hat denn behauptet, dass dies mein Ansinnen gewesen sei? Ich habe schlicht versucht, einen bestimmten Blick auf die Medienlandschaft zu richten, der der erlebten Realität des Publikums entspricht. Und dafür ist die Darstellung über die vier Schritte Finanzieren - Erstellen - Filtern - Verbreiten bzw. die Umordnung dieser Schritte im Web nützlich. Hätte ich versucht, die Veränderungen im medialen Apparat ganzheitlich und in aller Nuancierung beschreiben zu wollen, wäre ich mit meinem Vortrag an dem Tag und bei dem Publikum wahrlich an der falschen Adresse gewesen. Die Unterscheidung zwischen dem Filtern der Realität und dem Konstruieren der Realität, die Schulz dann als Alternativvorschlag anbietet, ist sicherlich interessant. Nur wiederum für das anwesende Publikum komplett irrelevant. Wenn ich erklären möchte, warum die großen Verlage das Internet schwierig finden, dann ist es für die Beschreibung von deren Befindlichkeitslage und für das Verständnis des Publikums komplett gleichgültig, ob ihre Tätigkeit im Filtern (sie lassen nur bestimmte Dinge durch, die mir als Leser einen bestimmten Blick auf die Realität vermitteln) oder im Konstruieren (sie erzeugen für mich die Realität) besteht.
- Der zweite Kritikpunkt betrifft meine Äußerungen zur möglichen Dezentralisierung der Politik. Er führt drei Argumente an, die der "Utopie der spontanen und verbindlichen politischen Willensfestlegung durch jedermann, jederzeit" widersprechen. Damit hat vermutlich recht (ich habe nicht alle Argumente komplett verstanden), nur hat Schulz hier offenbar meinem Vortrag nicht richtig zugehört: ich habe nie behauptet, dass ich einer solchen Utopie anhänge. Ganz im Gegenteil habe ich im Vortrag deutlich gesagt, dass ich alles andere als eine einschränkungslose direkte Demokratie fordere. Ich sage jedoch etwas anderes - damit hat sich Schulz aber leider nicht auseinander gesetzt: In einer Zeit, in der wir offenbar mit einer steigenden Demokratiemüdigkeit zu tun haben (sinkende Wahlbeteiligung, sinkendes Vertrauen in Parteien) sollte die Politik sich sehr genau fragen, welche Wirkung das dezentrale Voten, Liken und Abstimmen auf die Psyche der Bevölkerungen in den Demokratien hat. Wir mögen an den bestehenden Prinzipien unserer demokratischen und rechtstaatlichen Ordnung festhalten wollen, nur: kann irgendwann eine Bewegung in der Bevölkerung entstehen, die daran nicht festhalten will, weil sie findet, dass wir das doch jetzt ohne "das ganze Gequatsche in Berlin" an unseren Rechnern erledigen können? Und wenn ja, wie gehen wir damit um? Sind die aktuellen Entwicklungen in Spanien vielleicht sogar ein Vorgeschmack darauf? Das war meine Frage, die Schulz nicht beachtet.
- Die von mir geschilderte Sichtweise, dass die Werber früher aus einer aggregierten Sicht die Bevölkerung "von oben" zu beeinflussen versucht haben, und sich jetzt im Internetzeitalter daran stören, dass sie plötzlich mitten dazwischen sitzen und nicht mehr "von oben auf den Rattenkäfig blicken können", tut er ab als Verklärung der Vergangenheit. Das ist leider eine fundamentale Fehleinschätzung seinerseits, denn ich habe wieder nicht von einer (objektiven?) Wahrheit gesprochen, sondern allein von der Geisteshaltung der Leute, die mir gegenüber saßen. Zu diesem Thema gibt es nicht viel mehr zu sagen, als dass ich Schulz empfehlen würde, mal ein Praktikum in einer der großen Werbeagenturen zu machen. Das, was ich beschreibe, hat nichts mit der Verklärung der Vergangenheit zu tun - es ist täglich gelebte Realität, heute. Ich habe einen Spiegel hochgehalten.
- In seinem letzten Kritikpunkt wird es dann fast schon kauzig. "Schließlich verändert sich alles mit der Zeit", wir haben es hier nicht mit einem medialen Paradigmenwechsel zu tun. Und was tut er dann? Er erläutert das anhand von zwei Beispielen - sich selbst und seinem Opa. Das entbehrt vor dem Hintergrund seiner eingangs erwähnten Kritik an meiner Vortragsweise nicht einer gewissen Komik. Aber ganz abgesehen davon, dass die Bewertung der Geschwindigkeit einer Veränderung zu einem gewissen Grad offenbar eine subjektive Sache ist, kann man die Dinge gern so sehen, wie Schulz es tut - ich selbst denke auch, dass die vergangenen 20 Jahre nur die Vorbereitung der Revolution waren. Sie geht jetzt langsam los.
Mein Fazit zu dieser Kritik ist zweierlei:
Erstens fänd' ich gut, wenn Kritiker genauer hinhören, bevor sie kritisieren.
Zweitens haben wir es mit einem interessanten Versagen der persönlichen Internetfilter von Stefan Schulz zu tun. Ich habe einen Vortrag für Werber gehalten, der für Werber vermutlich nützlich ist. Stefan Schulz hat sich als Soziologe daran gestoßen. Das ist sein gutes Recht, aber: "I'm not talking to you." Oder, um beim Bild meines Vortrages zu bleiben: Schulz sitzt ganz eindeutig in einer anderen "Kiste" als ich.
Wenn man gute Vorträge halten möchte, sollte man sich sehr genau Gedanken darüber machen, zu wem man spricht und was diese Leute hören müssen, um die entscheidenden Punkte zu begreifen. Darum bemühe ich mich sehr. Dass sich Stefan Schulz an meinem Vortrag so stört, zeigt mir, dass ich es offenbar in diesem Fall richtig gemacht habe.
Nachtrag 8.6.2011: Es gibt eine Replik auf die Replik auf die Kritik. Ich bin derzeit nur auf Achse, weiß nicht, wann/wie ich es schaffe, eine Replik auf die Replik zur Replik zu schreiben.
[Zur Form: ich hätte gern die vier Punkte oben durch Leerzeilen optisch besser voneinander getrennt, aber die automatischen Typepad-Formatierungsregeln lassen das bei einer nummerierten Liste auch händisch im HTML-Code nicht zu. Ich bitte um Entschuldigung für die schlechte Lesbarkeit.]
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