Simone Ashoff, früher unter anderem Chefin von Jung von Matt/Next, betreibt heute die Good School - ein Weiterbildungsprojekt vor allem für Werber und klassische Marketing- und Medienleute, die sich mit den neuen Möglichkeiten des Webs vertraut machen wollen. Hin und wieder halte ich dort auch Vorträge oder beteilige mich an Workshops - sofern die Arbeit bei trnd das zulässt.
Heute ist so ein Tag - grade habe ich meinen Vortrag gehalten - zum Medienwandel und zu Word-of-Mouth Marketing. Jetzt ist Björn Ognibeni dran. Wir haben schon viel gemeinsam gemacht, sehen uns immer wieder bei Konferenzen, er war auch bei trnd eine Weile dabei - und jetzt spricht er über Social Media. Ich schreibe ein wenig mit und bastel' ein paar Links und Kommentare dazu, während Björn drei wichtige Thesen gegen Social Media entkräftet.
Social Media begann laut Björn mit Weblogs - das erste Mal konnten nun normale Menschen Content-Management-Systeme verwenden, nicht mehr nur die großen Konzerne. Nach einer Weile wurden dann auch Foren, Bewertungsportale oder auch Wikipedia, die es teilweise ja schon viel länger gibt, ebenfalls unter dem Begriff Social Media gefasst.
Entscheidend: aus den passiven Couch Potatos werden auf einem Mal total aktive Nutzer. Der biertrinkende Sofafurzer wird nun urplötzlich kreativ tätig.
Oder ... auch nicht?
Dass die Millionen passiven Konsumenten nun alle zu intensiven Produzenten werden, wird ja von vielen für sehr unwahrscheinlich gehalten: Sind doch alles nur Freaks?! Was ist denn daran sozial? Vor allem aber: Wer hat die Zeit dafür?
Antithese 1: "Wer hat denn da die Zeit dafür?"Und damit ist Björn - für den Gegenbeweis - dann gleich bei Clay Shirky und dem Cognitive Surplus (bin ja auch ein Fan). Der auf überzeugende Weise beschrieben hat, dass die Fernsehleute selbst das allergeringste Verständnis dafür haben, dass ganz normale Menschen Zeit für eigenes produktives Medienschaffen finden könnten - ihr Business ist ja das Den-Leuten-die-Zeit-stehlen - Shirky: "Wer für's Fernsehen arbeitet, darf niemals die Frage stellen, woher Leute die Zeit für das Web finden."
In Shirkys Vortrag ist ein Kernthema die Zeit, die für die Erstellung der Wikipedia gebraucht wurde ("auf der Serviette kalkuliert", komplett alle Wikipedia-Varianten international zum Zeitpunkt seines Vortrages), und wieviel im Vergleich dazu an einem einzigen Wochenende in den USA ferngesehen wird - da ergibt sich, dass man genauso viel Zeit braucht, die Wikipedia zu erstellen, wie alle Amerikaner an einem Wochenende allein mit Werbung "verfernsehen". Das Fernsehen funktioniert als riesige "Kreativitätsabsaugemaschine" - sie nimmt die ganze Freizeit auf, die es in vorindustrieller Zeit einfach gar nicht gab. Dadurch entstand erst die "Couch Potato" - die Couch Potato ist nicht Ursache, sondern Ergebnis.
Ein neues Ergebnis kann nun sein, dass eine partizipative Kultur entsteht, in der Menschen sich nicht mehr allein als Konsumenten, Empfänger, Abnehmer sehen, sondern beginnen, sich viel mehr einzumischen. Wofür es nun mehr und mehr Mittel gibt - mehr und mehr Instrumente - um aktiv zu werden.
In jedem Falle gilt: die Zeit ist da. Und es ist eine subjektive Entscheidung, wie man sie verwendet. Björn: "Der Raucher muss auch nicht nach Zeit suchen und sie begründen, um seine Zigarette zu rauchen. Er nimmt sie sich. Genau so ist es mit Twitter auch." Und so ist der entscheidende Unterschied zwischen früher und heute, in Clay Shirkys Worten: "I can do that, too." Denn die Einladung mitzumachen, ist offen für alle. Und extremer noch: die künftigen Generationen, die damit aufwachsen, dass es Medienprodukte gibt, die über Maus und Tastatur Interaktion erwarten, werden sich an keiner Stelle mehr damit zufrieden geben, dass Angebote - welcher Art auch immer - diese Interaktion nicht mehr erlauben. In der ganzen Bevölkerung - nicht nur unter den Geeks. Und das kann man auch an den Nutzerzahlen sehen - ca. 10% der deutschen Online-Gesamtbevölkerung (über den Daumen: 5% der Gesamtbevölkerung) nutzen mittlerweile Blogs, vom Fotos hochladen gar nicht erst zu reden.
Antithese 2: "Das sind doch nur Freaks!"
Ein Beispiel ist GoFeminin, wo Björn zeigt, dass es dort mittlerweile weit über 10.000 Blogs gibt - und die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass da keine weltanschauliche Überlegung dahinter steht, sondern dass es Leute einfach normal finden, sich im Web auszudrücken und über Kommentare mit ihren Freunden zu interagieren. Das Massenbesäufnis auf Sylt ist dann einfach nur ein Ergebnis von dem, was passieren kann, wenn "ganz normale" Menschen massenmedial tätig werden.
Andererseits haben auch Promis heute die Möglichkeit, direkt mit ihren Fans zu reden. Auch das ändert für die Massenmedien enorm viel. Denn wo der Paparazzo den Star neulich noch genervt hat und letzterer nichts tun konnte ... hat der Star heute die Möglichkeit, sich direkt zu wehren, indem er den Paparazzo auf Twitter etc. zum Thema macht. Oder aber der Star wird selbst das Opfer - wie in dem Fall, als Sachar Kriwoj im ICE die Gespräche zum Transfer von Ballack überhört und gleich getwittert hat.
Nicht die neuen Möglichkeiten selbst sind die Revolution, sondern sie werden es, wenn sie für die Nutzer selbstverständlich werden, und sie damit in den Alltag wandern - und dort jeden zum potenziellen Bildreporter und Revolutionär werden lassen.
Antithese 3: "Da vereinsamen doch nur die armen Schweine!"
Die These, dass diese Möglichkeiten die Leute eher vereinsamen lassen, entkräftet Björn dank der Wachstumszahlen der sozialen Netzwerke - die sind ja für nichts anderes gemacht, als dass sich Leute mit anderen austauschen. Eine coole Möglichkeit, das bildlich darzustellen, ist das "Facebook FriendWheel", mit dem man seine Kontakte und Vernetzungen visuell darstellen kann. Und das ermöglicht, heute sehr viel mehr informelle (weak-tie) Kontakte zu pflegen, die das Leben sozial reicher und nicht ärmer machen.
Dabei gilt es, neue Konventionen zu lernen. Am sehr schönen Beispiel der holländischen Fenster ohne Gardinen erläutert Björn, warum wir neue Regeln lernen müssen: in Holland haben die Fenster keine Vorhänge, man kann leicht reinschauen. Nur: die Holländer respektieren das, sie schauen sich nicht gegenseitig in die Fenster. Das ist im Social Web genauso: Nur weil man dort (fast) alles sehen kann, muss man nicht an allem teilnehmen. Das zeigt auch, wie unsinnig die Kritik am Katzencontent ist. Wir müssen einfach neue medialen Regeln des Umgangs lernen.
Im zweiten Teil des Vortrages beschreibt Björn nun, in welcher Weise die Leute im Social Web eben nicht nur Katzencontent verbreiten, sondern kollektiv neue Ideen, Dinge, Initiativen entwickeln und vorantreiben. Aber ich höre mit dem Mitschreiben jetzt mal lieber auf - nicht dass ich hier mit der Tastaturklapperei den anderen Workshop-Teilnehmern weiter auf den Geist gehe ...