Gastbeitrag von Thomas Wagner (Twitter).
Word of Mouth Marketing, Mundpropaganda Marketing, Viral Marketing und Virale Werbung werden in der Marketing- und Kommunikationsbranche heftig diskutiert. Nun ist man sich zwar nicht erst seit gestern einig, dass Mundpropaganda wichtig ist. Wie man damit umgehen soll, welche Auswirkungen die Interaktionen der Menschen auf ein Unternehmen haben und welche Wirkung Mundpropaganda-Marketing hat, darüber scheiden sich jedoch die Geister.
Als zum Beispiel Ford in den USA 100 online-affinen jungen AmerikanerInnen aus dem ganzen Land den Ford Fiesta vor der Markteinführung zum Testen gab und um öffentliches (Online-) Feedback bat, dauerte es nicht lange, bis es Kritik setzte. Die Kampagne sei vielleicht eine effektive Taktik, allerdings seien Aktionen wie diese keine Quelle für nachhaltigen Wettbewerbsvorteil, denn der gleiche Ansatz könne auch für andere Autos funktionieren, die auf junge Fahrer abzielen. Ford habe zudem weniger Einfluss auf das öffentliche Image des Fiestas und man erreiche dadurch keine langfristige Differenzierung für die Marke (Generating buzz - Ford taps social-media mavens to spread the word about redesigned subcompact Fiesta).
Was motiviert diese Kritik? Ist sie berechtigt? Und wenn nein: was ist der Wettbewerbsvorteil von WOM-Marketing? Folgend der Versuch einer Analyse.
(Erst) seit dem Aufstieg von "Social Media" macht sich so mancher Werbetreibende darüber Sorgen, dass niemand mehr allein den Werbeaussagen vertraut. Den Produkten und dem Service eines Unternehmens – also den Dingen hinter den schimmernden Anzeigen – kommt wieder mehr Aufmerksamkeit zu. Die Kernaussage vieler "Web 2.0"-Marketer ist daher im Grunde: "Wenn du ein sehr gutes Produkt und einen tollen Kundenservice bietest, brauchst du keine Werbung mehr" (vgl. u.a. Paul Isakson, Beispiele bei Markus Roder). Der Gedanke ist attraktiv: Wir als Käufer sehen uns gern als rationale Wesen, die die Welt objektiv erfassen und rationale Kaufentscheidungen treffen können. Die objektiv besten Marken setzen sich also durch Empfehlungen ganz einfach durch. Das ist die – zugegebenermaßen übertriebene – Extremposition jener Seite, die von der kompletten Ohnmacht der Massenmedien und damit der Werbung ausgeht. Und sie ist falsch, wie Markus Roder beim Werbeblogger plastisch beschrieben hat.
Denn was ist das „beste“ Produkt? Was die „beste“ Serviceleistung? Was immer wir auch denken, ist sozial konstruiert, vom Umfeld beeinflusst und kann bisweilen vollkommen irrational sein. Ein "perfektes Produkt" als Ding an sich kann es also gar nicht geben, weil wir die Welt gar nicht objektiv erfassen, sondern höchstens subjektiv erleben können. Damit ist die Position, dass sich das beste Produkt im Social Web schon durchsetzen werde, nur schwerlich zu halten.
Kritiker des Word-Of-Mouth-Marketing kommen aber von einer anderen Seite. Sie glauben gar nicht mehr an objektive Unterschiede zwischen den Produkten, und sind daher überzeugt, dass man sie deshalb vor allem mit Werbung differenzieren muss. Sie hängen dabei dem verhaltenswissenschaftlichen Ansatz an. Dieser besagt, dass man als Sender nur gewisse Stimuli (z.B. "Sex") verwenden muss, um einen Effekt zu erzielen (z.B. "sells"). Gehört man dieser – hier wieder vereinfacht dargestellten – Fraktion an, hat man natürlich keinen Grund zu glauben, dass gezielt geplantes und begleitetes "Sampling 2.0" einen Unterschied für die Marke macht. Denn wie soll bei nahezu gleichen Produkten durch Testen und Erleben ein Markenimage aufgebaut werden?
Wie man zu Word-of-Mouth-Marketing steht, hängt hauptsächlich davon ab, wie man über Kommunikation und Marketing denkt. Kommunikation kann man als Interaktion verstehen, bei der man versucht, sich mit Hilfe von Symbolen zu verständigen. Das heißt zum Beispiel, dass ein Stuhl für uns deswegen ein Stuhl ist, weil sich durch unzählige soziale Interaktionen eine gemeinsam geteilte Bedeutung dafür herauskristalisiert hat. Sie ist aber trotzdem subjektiv - denn auch wenn ich hier Stuhl schreibe, haben Sie vermutlich ein etwas anderes Bild von einem Stuhl vor Augen als ich. Wir wissen über unser Denken, dass es nur eine unvollkommene Interpretation ist, die von Vorurteilen, Erfahrungen und unbewusst ablaufenden Prozessen im Gehirn beeinflusst wird.
Damit sollte klar werden, dass die Bedeutung einer Marke - das Markenimage, die Reputation, die Autorität - davon abhängt, was unsere kollektiv geteilte Vorstellung von der Marke ist (Faris Yakob, Nigel Hollis). Und dass man Marken weder wie eine Kugel ins Gehirn schießen kann, noch dass wir völlig rationale Entscheider sind. Nike macht nicht allein zur Marke, was ich oder die Nike-Marketingabteilung über Nike denken, sondern was in unserer Kultur als kollektiver Wissensbereich "Nike" existiert (und das ist eindeutig mehr als nur eine Werbebotschaft). Marken sind sozusagen das kollektiv geteilte Wissen, das ein Unternehmen und die Menschen miteinander koppeln (vgl. Tropp). Genauso wie das kulturelle Wissen über Stühle mich und Sie dazu bringen würde, uns darauf zu setzen. Damit ist jede Äußerung, jeder Blogbeitrag und jeder Tweet zur Marke auch markenbildend, ob man das will oder nicht. Aus Sicht derer, die Marken steuern wollen, ist ein Markenimage somit per Definition unvollkommen. Markenführung kann also nur der Versuch sein, ganz besonders intensiv zu diesem speziellen kulturellen Wissensbereich beizutragen. Die Kritik an mangelnder Kontrolle über das Image kann also entkräftet werden, weil Kontrolle entsprechend obigen Ausführungen ohnehin unmöglich ist.
Der langfristigen Wettbewerbsvorteil von Word-of-Mouth Marketing besteht darin, die direkte Erfahrung einer Marke derart zu ermöglichen, dass in der Interaktion noch am ehesten Einfluss auf die Symbole genommen werden kann, die es dann aufgrund der Tiefe der Auseinandersetzung vielleicht bis ins kollektive Markenwissen schaffen. Ford kann bei seiner Aktion den Kontext und die Art der Kommunikation "designen" und damit Einfluss auf die Erfahrung nehmen. Inwiefern diese direkten Beziehungen dann einzigartig und langfristig wertvoll sind, ist abhängig von der gesamten Erfahrung: Der Wahrnehmung des Produktes selbst durch die Menschen, über soziale Reaktionen darauf bis zur unmittelbaren Kommunikation mit dem Unternehmen (Framing). All das sind menschliche Dinge, die per Definition nicht objektiv perfekt sein können und die man nie vollkommen beeinflussen wird können ("Experience Design is a Bunch of Horse-Shit" von Frogdesign, pdf).
Das heißt, auch wenn Honda oder Nissan ähnliche Aktionen machen würden, entstünden völlig andere Ergebnisse. Denn erstens wäre bei aller potentiellen "objektiven Gleichheit" der Produkte die Erfahrung und die Kombination von Symbolen, die man bereitstellt oder die entstehen, eine andere. Zweitens bleibt die größere Herausforderung noch immer jene, herauszufinden, was eine außergewöhnliche Erfahrung im jeweiligen Kontext (Zeit, Ort, Netzwerk, Kultur) eigentlich ist. Hyundai hat das in den USA mit dem Assurance Angebot zum Beispiel perfekt vorgemacht.
Daraus folgt, dass in Zeiten von "Social Media" der Gestaltung der gesamten Markenerfahrung – also dem Verstehen des Kontexts, in dem die Menschen leben und der Planung und Gestaltung aller Interaktionen des Unternehmens mit den Menschen – eine entscheidende Rolle zukommt. Daher sollte durchdachtes WOM-Marketing ganz selbstverständlich Teil des Marketings werden. (Und gute Werbung kann natürlich nach wie vor ihren sinnvollen Beitrag leisten.)
Thomas Wagner