2002 war Tim Pethick in Australien unzufrieden damit, wie die meisten Unternehmen arbeiten. Also entschloss er sich, selbst ein Unternehmen zu gründen, um zu zeigen, dass es anders geht. Der Businessplan entstand nicht auf einem Bierdeckel, sondern auf der Rückseite eines Briefumschlags. Und er beinhaltete die folgenden drei Punkte:
1.) Wir wollen mit einem kleinen Unternehmen eine große Marke aufbauen.
2.) Wir wollen Australiens größter Anbieter reiner Fruchtgetränke werden - denn ich liebe Obst und verstehe das Produkt als Kunde.
3.) Wir wollen dabei Spaß haben und etwas wirklich Gutes bieten.
Letzteres hatte seinen Hintergrund im Crash der New Economy. Tim hatte miterlebt, wie Web-Entwickler und andere Start-Up Junkies davon geträumt haben, über Nacht zu Millionären zu werden. Weil sie an nichts als den rasch steigenden Wert ihrer Stock Options glaubten, haben sie jahrelang Tag und Nacht gearbeitet, Freunde verloren, ihre Familien im Stich gelassen - alles mit dem einen Endziel: schneller Reichtum. Als dann die Blase platzte, löste sich ihr einziger Traum in eine Illusion auf. Sie waren "verlorene Seelen". Weil das Leben nicht daraus bestehen darf, allein ein fernes Ziel im Auge zu haben, sondern die Reise dahin zu genießen, wollte Tim auf andere Art und Weise arbeiten. Es sollte Spaß machen.
Auch der Punkt "etwas Gutes machen" hing damit zusammen. Letztlich, so Tim, entsteht eine starke Marke nur dann, wenn ihre Grundlage ein Mehrwert für die Kunden ist. Zu viele Unternehmen - und ganz besonders galt das für die Unternehmen der Dotcom-Zeit - wissen eigentlich gar nicht genau, welchen Mehrwert sie für ihre Nutzer oder Kunden schaffen. Etwas wirklich Gutes zu leisten, muss die Grundlage für eine starke Marke sein.
Warum Fruchtsäfte? Jede traditionelle Marktanalyse hätte abgeraten: in Australien ist das Fruchtsaftgeschäft ein Markt mit einem Umsatz von einer Milliarde Dollar im Jahr, beherrscht von vier großen Anbietern, die 80% des Marktes unter sich aufteilen, der größte allein hat 55%. Wie soll da ein kleines Startup mithalten, wenn die Konkurrenz massive Profite einfährt und die etablierten mächtigen Vertriebskanäle dominiert? Tims Antwort: die etablierten Unternehmen sind faul und fett. Sie können sich nur schwer verändern, also müssen wir anders denken und beweglicher, flexibler sein. Die Grundlage für den Erfolg muss dabei ein echter Kundennutzen sein.
Wie entstand das Produkt? Im Mixer in Tims Küche. Seine Frage war: wie kann ich echte Abhängigkeit der Kunden hinbekommen? Wie mache ich einen Saft, der eigentlich eine Droge ist? Er selbst wurde sein erster Junkie. Und erreicht hat er es, indem er Fruchtsaft mit einer enorm geheimen Zutat entwickelt hat: Früchte.
Man mag meinen, dass Früchte keine so unübliche Sache in Fruchtsäften sein sollten. Dem ist aber letztlich nicht so. 90% aller Säfte werden auf Basis von Fruchtsaftkonzentraten gemacht. Das bedeutet, dass man aus Früchten zunächst einen dickflüssigen konzentrierten Schlamm macht. Dieser Schlamm hat einige Eigenschaften, die für's Geschäft extrem angenehm sind: er ist sehr haltbar und sehr leicht zu transportieren. Um daraus Saft zu machen, wird der Fruchtschlamm genommen, man füllt Wasser dazu, außerdem Vitamine, Farbe, Geschmacksverstärker und kocht die ganze Soße nochmal auf. Damit ist zwar alles tot, was mal saft- und fruchtartig daran war. Aber dafür hat man ein Produkt, das endlos haltbar ist und sich super transportieren lässt (man braucht keine Kühlwagen!). Das aber auch furchtbar schmeckt.
Tims Innovation: wir nehmen echte Früchte, machen daraus echten Saft und füllen ihn in Flaschen. Punkt.
Am Anfang waren sie zu zweit - er und sein Freund Hank. Sie sind von Tür zu Tür gegangen und haben Saft verkauft. In der ersten Woche 40 Flaschen à 250 ml. Das Problem am Ende der Woche: sie hatten verdammt viel Saft übrig. Also haben sie angefangen, das Produkt zu verschenken. Sampling als Fundament des Marketings war aus einer Not geboren. Es entstand der Nudie Van, und Tim war alles in einer Person: Empfangspersonal, Fahrer, Produktionsleiter. (Der Mensch im Auto auf dem Bild ist Tim. Er ist übrigens über 2 m groß.)
Marketing ist nicht gleich Werbung. Unter anderem gehört auch Preisgestaltung zum Marketing. Als Nudie an den Start ging, wurden 350 ml Saft im Durchschnitt für $ 1,60 verkauft. Bei Nudie gab es 250 ml für $ 3,20. Die übliche Reaktion: das zahlt doch keiner. Tim sagt: "Man muss den Kunden vertrauen. Sie erkennen ein echtes Produkt. Sie verstehen, dass wir eine kleine Firma sind. Sie werden den Wert, den wir ihnen bieten, auch bezahlen wollen."
Aber wie soll dieses Geschäft wachsen? Wie kann man allein eine Vertriebsorganisation aufbauen? Mit den Fans. Aus der Sampling-Aktion wurde eine Vertriebsaktion: beim Verteilen seiner Samples ging es ihm immer um seinen Spaß und den der Leute, denen er die Samples verteilt hat. Und zu jedem Sample, das verteilt wurde, hat Tim einen Flyer mitgegeben und den Leuten gesagt: "Wenn Euch das schmeckt, geht in einen Laden und fragt, ob sie Nudie anbieten können." Und genau das ist passiert. Die Kunden haben geholfen. Sogar die Läden haben geholfen. Tim: "Wenn man ein Qualitätsprodukt anbietet, wo es sonst kaum Qualität gibt, hat man einen großen Vorteil." Leute erwarten beim Probieren zunächst irgendeinen mittelmäßig schmeckenden Saft. Stattdessen schmeckt der Saft großartig - Erwartungen werden übertroffen. Und was passiert, wenn unsere Erwartungen übertroffen werden? Wir reden gern mit anderen darüber. Das war die Grundlage für das Nudie-Wachstum.
Zwölf Monate später: Nudie versorgt 4.500 Geschäfte. Hat 56 Mitarbeiter und 22 Nudie Vans. Mittlerweile waren 7 Millionen Nudie Flaschen verkauft worden. Die Marke hatte es bereits unter die Top-10-Marken im Asiatisch-Pazifischen Raum geschafft.
Im Januar 2004 wurden Brandanschläge auf die Fabrik und das Bürogebäude verübt. Es entstand einiger Schaden. Aber offenbar nicht genug. Im Mai gab es einen weiteren Anschlag, und dieser war fürchterlich: Büro und Fabrik waren Geschichte. Es schien, als sei Nudie Geschichte. Nudie Säfte sind nicht sehr lange haltbar. Ohne eine funktionierende Infrastruktur, die das Produkt kühlt, können die wichtigen Kunden - beispielsweise die größte australische Supermarktkette - nicht vernünftig beliefert werden. Es bestand die Gefahr, dass Nudie ausgelistet wird. Tim entschied, nicht aufzugeben. Woher das Geld und die Lösungen kamen, mag er nicht verraten: "I begged, borrowed and stole." Aber er hat Nudie innerhalb von 6 Wochen wieder in die Regale gebracht.
Und vor allem: er hat den Brandanschlag für die eigene PR genutzt. Er gab jedem Medium, jeder Zeitung, jedem Sender Interviews. Und er hat den "Nudie Feuerwehrmann" erfunden, als Dank an die Feuerwehrleute, die sich für Nudie eingesetzt haben - sie wurden eingeladen, nach dem Neustart der Produktion bei Nudie kostenlos Säfte zu bekommen. Außerdem gab es zum ersten Mal in der Geschichte der Marke klassische Werbung: große Plakatwände, auf denen schlicht "We're back" zu lesen war. Damit wurde den Kunden eine Botschaft zur Verfügung gestellt, die sie wiederum an andere weitergeben konnten.
Nach einem Jahr hat Nudie Smoothies eingeführt. Nach 18 Monaten neue Geschmacksrichtungen. Zwei Jahre später kamen Nudie Soups. Im Sommer 2005 Nudie n'Ice Cream, in einem Markenlizenzdeal mit Nestlé. Nach zwei Jahren am Markt war die Marke so stark, dass Nestlé - der größte Lebensmittelkonzern der Welt - sich gemeldet hat und die Marke lizensieren wollte. Nestlé hat alles erledigt, Nudie musste nur den Scheck einlösen.
Mundpropaganda und echter Enthusiasmus als Grundlage für eine Mega-Marke. Eine bemerkenswerte Geschichte.
(Diese Darstellung basiert vollständig auf Tims eigener Präsentation bei der Rethink Konferenz 2009 in Barcelona.)
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