Das Thema "Wahlkampf im Social Web" scheint aktuell massiv die Gemüter zu bewegen. Morgen werde ich mit einer Journalistin über das Thema sprechen, und während ich dabei bin, mich ein wenig auf das Telefonat vorzubereiten, kam mir der Gedanke, aus meinen Stichpunkten für das Telefonat doch einfach einen Blogpost zu machen. Da bei dem Thema insbesondere die Arbeit der Obama-Kampagne mit dem Web immer wieder als mögliches oder unmögliches Vorbild bemüht wird, arbeite ich mich mal am selben Thema ab. Also - welche Faktoren haben die Kampagne von Obama im Web möglich gemacht?
- Der Promi: Wenn man sich die unterschiedlichen Aktivitäten der twitternden Politiker hierzulande ansieht, wird ein entscheidender Unterschied deutlich: die großen Zahlen an "Followern" sammeln sich bei Twitter vor allem dann, wenn schon vorher prominente Menschen nun auch Twitter nutzen. Stephen Fry, Ashton Kutcher oder - um eine Business-Koryphäe dazu zu nehmen - Guy Kawasaki haben riesige "Follower-Scharen". Alle drei sind jedoch Menschen, die bereits vor dem Start ihrer Twitterei Millionen von Menschen als Idole oder irgendwie interessante Promis bekannt waren. Wenn so ein Star das Instrument Twitter für sich entdeckt, dann gibt er oder sie damit unzähligen Menschen mit einem Mal die Möglichkeit, ganz nah dran sein zu können. Und genau dies galt für Obama sicher auch. Erst nachdem er sich mit seiner flammenden Rede bei der Democratic Convention im Jahr 2004 und mit bemerkenswerten Büchern bereits seinen Namen als kommender Stern am Firmament der darbenden Demokraten gemacht hatte, begann er (bzw. sein Team) zu twittern. (Vorher hätte er auch gar nicht twittern können, denn der Dienst wurde erst 2006 gelauncht.) Obama hat seinen Promistatus also dafür genutzt, im Web2.0 Reichweite aufzubauen. Er hat nicht das Web2.0 genutzt, um Promi zu werden. Wer es anders herum versucht und allein über das Web prominent werden will, der braucht sehr sehr lange. Und schafft es vielleicht dennoch nicht. Viele deutsche Politiker, die twittern, kennt aber entweder kaum jemand. Oder wenn sie jemand kennt, dann twittern sie kaum (außerdem weiß man nie, ob sie's wirklich selber sind). Und einen wirklich charismatischen Politiker, der so attraktiv ist, dass man ihm als Promi wirklich nahe sein will ... den haben wir leider derzeit nicht.
- Die Bewegung: Die Architekten der Bundesrepublik wollten nach dem Nazi-Horror eine Sache auf jeden Fall vermeiden - dass wieder ein einzelner eine überragend dominierende Rolle in der Politik spielen kann. Und so ist das System darauf ausgelegt, dass die wichtigen Entscheidungen immer von möglichst professionellen Kollektiven gefällt werden - wie beispielsweise die Wahl oder Abwahl des Regierungsoberhauptes durch Berufspolitiker im Parlament. Das Einschwören der gesamten Bevölkerung auf eine Führerfigur (das Wort benutze ich bewusst) ist in der deutschen politischen Wirklichkeit weder vorgesehen noch erwünscht. Das hat lange Jahre sicherlich eine sehr moderierende Wirkung erzielt. Der Nachteil ist aber, dass die begeisternde Wirkung des einen, der das Volk vielleicht zu motivieren versteht, doch immer im Kollektiv einer Partei eingebettet ist und sein muss. Als ich gegenüber meinem Vater, der in den 70er Jahren im Bundestag saß, davon sprach, dass man ähnlich wie Obama eine Begeisterung für übergeordnete Ideen schaffen sollte, mit der sich möglichst viele Leute im Land identifizieren können, war seine Reaktion unerwartet unwillig: "Na, das wäre dann ja wieder eine Bewegung. Aber Bewegung, das wollen wir seit den Nazis mit aller Macht verhindern." Mit anderen Worten: Begeisterung für eine partizipative Teilhabe an einer großen Idee - einer Idee, die vielleicht deutlich größer ist als das, was sich im Rahmen einer einzelnen Partei abspielen kann, ist in Deutschland im bestehenden System kaum zu schaffen. Und wenn sie geschaffen wird, dann an den Institutionen vorbei und damit außerhalb der Politik. Was sicher ein interessanter Ansatz wäre, aber wiederum keine Option für die etablierten Politiker in den Parteien. Eine übergeordnete Idee dieser Art, die auf eine Einigung des gesamten Volkes zumindest rhetorisch gesetzt hat, war jedoch der Kern der Kampagne Obamas: das Überwinden des Gegensatzes zwischen Demokraten und Republikanern und das Heilen des Risses in der Gesellschaft. (Wichtig: das war eine wichtige Kampagnenidee - dass sie sich heute realpolitisch schwer umsetzen lässt, steht auf einem anderen Blatt.)
- Der Traum: Den Amerikanern in Erinnerung zu rufen, dass ihr Land das vielleicht größte und womöglich großartigste soziale Experiment in der Geschichte der Menschheit war und - jetzt kommt's - noch immer ist, ist sicher ein Verdienst der Kampagne Obamas. Für diese kommunikative Botschaft, die einen Großteil der Stärke seines Programms ausgemacht und die die einigende Wirkung (siehe oben) unterstützt hat, hierzulande ein Äquivalent zu finden, dürfte sehr sehr schwer sein. Denn zum einen gilt das vorstehende - wir tun uns hier historisch schwer mit großen Ideen, zu denen sich vorbehaltlos alle bekennen können. Jeder kennt das ungute Gefühl, das einen immer wieder zu überkommen droht, wenn zu viele Menschen zu vorbehaltlos für eine nationale Sache zu schwärmen beginnen. Ich erinnere mich noch sehr genau an die Fußball-WM 2006. Es war ein magischer Sommer, den ich am Schluss dann erst so ganz "in mein Herz gelassen" habe. Aber wie lange habe ich mich gescheut, mich einfach nur an unserem großen deutschen Fest zu freuen. Der deutsche Traum hat nicht die "Markenmacht" wie der amerikanische - es gibt ihn nicht. Und daher kann ihn kein Politiker wie ein Phönix aus der Asche erstehen lassen, so wie es Obama mit dem amerikanischen Traum gelungen ist. Dass dazu die Hautfarbe das entscheidende Element beigetragen hat, lässt sich hierzulande, zumindest aktuell, ganz genauso wenig "nachmachen". Millionen von Menschen in den USA wussten, dass sie, indem sie Obama ihre Stimme gaben, damit nicht nur den vermutlich besseren Kandidaten zum Präsidenten machen. Sondern sie wussten dabei auch, dass sie damit auf der Seite der historischen Gerechtigkeit stehen würden.
- Das Geld: Es wird im Zusammenhang mit der Kampagne von Obama gerade hierzulande sehr oft vom Internet gesprochen. Das Internet war aber nur ein Teil der Miete. Genauer gesagt die Adresse, an der ein Großteil der Miete eingesammelt wurde. Ausgegeben wurde das Geld vielfach in den klassischen Medien, in einer Stärke, die selbst in komplett republikanischen Staaten die Finanzen des McCain-Teams an die Wand drücken konnte. Obama hat sich so viel TV-Werbung leisten können wie vorher nie ein anderer Präsidentschaftskandidat. Das darf man nicht vergessen. Denn man kann noch so viel twittern und bloggen - es gibt weite Teile der Bevölkerung, die man damit nicht erreicht. Aber das Geld ging noch an eine andere Stelle: es wurde in unzählig viele extrem gut ausgestattete Kampagnenteams investiert, die auf den Straßen vor Ort kreuz und quer im gesamten Land monatelang eine enorme Arbeit verrichtet haben. Ich habe ja gebloggt, dass ich am Wahltag selbst in Philadelphia mit dabei war und erfahren konnte wie gut ausgestattet die Teams vor Ort waren. Im übrigen wurden die vielen Kleinspender, die über das Internet ihre Beiträge geleistet haben, von massiven Spenden von Corporate America ergänzt, so dass die unglaubliche Summe von einer Dreiviertelmilliarde Dollar zusammen kam. Solche Geldsummen im Sinne einer einzelnen Idee - genauer: einer einzelnen Person - einzusetzen, dürfte hierzulande wohl kaum machbar sein. Dass das Geld aber floss und dass es Menschen gab, die sich mit dem Geld oder ohne im Sinne der Sache und des Mannes engagierten, liegt meines Erachtens vor allem an den drei Punkten davor. Gemeinsam konnten Enthusiasmus und Geld dann Berge versetzen.
Ich habe eindeutig nicht alles beschrieben, was es zu beschreiben gäbe. Allein die schriftstellerischen und rhetorischen Fähigkeiten des Mannes sind vermutlich ein komplettes Thema für sich. Über diese Kampagne werden sicher unzählige Bücher geschrieben, bzw. sind schon geschrieben worden.
Ich glaube aber doch, dass diese vier Themen ganz wichtige Faktoren sind, die für ein Verständnis des Erfolges aus deutscher Sicht wichtig sind: Obama konnte diesen bemerkenswerten Wahlkampf machen, weil er als charismatischer rhetorisch starker "Promi" eine Botschaft vermittelt hat, die eine breite Bewegung in der Bevölkerung auslösen konnte, weil sie wahrlich einen großen Traum in greifbar scheinende Nähe rückt. Und damit nicht nur Begeisterung, sondern eben auch viel Geld mobilisiert hat.
Wer das hierzulande nachempfinden will, muss sich erst über die spezifisch amerikanischen Besonderheiten und die spezifischen Besonderheiten dieses Mannes klar werden, bevor er oder sie daran gehen kann, diese Erfolgsrezepte auch hierzulande anzuwenden.
Anregungen und Ergänzungen aller Art sind in den Kommentaren natürlich mehr als willkommen.