Schimpfende Autofahrer, die sich über den Vordermann aufregen.
Bahnreisende, die den Schaffner anpöbeln. (Oder umgekehrt.)
Nachbarn, die sich gegenseitig beschimpfen.
Die Sprechstundenhilfe, über die man sich ärgert.
Das sind Beispiele für Situationen im Leben, in denen sich Menschen über Mitmenschen aufregen und dann ein Ventil brauchen, um die Aggression los zu werden. Es soll jetzt hier überhaupt darum gehen, ob es gerechtfertigt oder falsch ist, dem anderen, über den man sich ärgert, diese Wut mitzuteilen. Um das einzuschätzen, muss man den Einzelfall kennen. Und selbst dann bleiben oft viele Fragen offen. Fakt ist aber zweifellos, dass Menschen häufig gar nicht anders können, als ihren Ärger rauszulassen. Spannung entsteht, die gelöst werden muss, und das geschieht oft recht unkontrolliert und direkt vor Ort.
Fakt ist aber auch: das macht die Welt oft nicht besser. Denn selbst dann, wenn man im Recht ist, verbessert man nicht die Verhältnisse, wenn man andere auf deren Unrecht hinweist. Denn zum einen ist die Situation objektiv meist doch eine etwas andere als subjektiv empfunden. Zum anderen entsteht im Konflikt selten Einsicht bei denen, die Kritik abbekommen - ganz gleich ob gerechtfertigt oder ungerechter Weise.
Neulich fuhr ich mit der deutschen Bahn, im ICE. Das kommt bei mir öfter vor, und deswegen bin ich auch öfter im Bordbistro. Dort habe ich entdeckt, dass es nun auch Tiefkühlpizzen gibt. Die mag ich zwar nicht besonders, aber sie sind so ziemlich das einzig vegetarisch Warme, was ich dort (als "Flexitarier") bekommen kann. Sie warm zu machen, dauert ein paar Minuten. Und als ich so am Tresen wartend stand und mir die Zeit lang wurde, habe ich die Dame hinter dem Tresen gefragt, wann denn meine Pizza fertig werde. Daraufhin ging sie zur Microwelle, piekte den Finger hinein und meinte: "Och, noch so 3, 4 Minuten."
Ich war baff und wusste nicht recht, was ich sagen sollte. In solchen Situationen bin ich allerdings eigentlich nicht sehr scheu, und wäre normalerweise schnell in die Offensive gegangen, in etwa so: "Sagen Sie mal, haben Sie eben mit Ihrem Finger in mein Essen gepiekt?!" Und dann wäre vermutlich der Streit losgegangen.
Nicht so in diesem Fall. In meiner Konsternierung habe ich das Erlebnis von meinem Handy aus getwittert. Und zwar so. Es dauerte überhaupt nicht lange, da trudelten bei mir 3, 4, 5 sehr mitfühlende (bisweilen auch aufgebrachte ...) Reply-Tweets ein, die mich darin bestätigten, dass es in der Tat eine ziemlich freche Art dieser Frau war, mit meinem Essen umzugehen. Zum Teil war die Entrüstung der Antworten größer als meine eigene. Und so stand ich weiter am Tresen mit dem Wissen, dass ich nicht allein war in meinem Ärger über die Situation, dass ich meine negative Mundpropaganda dort vor Ort und Stelle absetzen konnte, meinem Zorn Luft machen und Mitgefühl ernten konnte. Und der Bedarf, der Frau zu sagen, dass das so ja wohl nicht geht, der löste sich langsam auf ... Und irgendwann wandelte ich, mit der (wenig leckeren) Pizza im Bauch, wieder an meinen Platz zurück und fand die moderne Kommunikationswelt und ihre Wirkung auf die Psyche irgendwie interessant.
Das Leben ist hektisch und anstrengend, und wir alle kämpfen mit störenden und nervenden Mitmenschen. Was nicht allein daran liegt, dass immer die anderen nervig sind. Sondern wir selbst auch. Dass sich Leute auf den Geist gehen, liegt manchmal am einen, manchmal am anderen, oft an beiden. Und genau an dieser Stelle können Dienste wie Twitter oder das Status-Update bei Facebook ein Ventil sein - ein Ventil, das uns zurückhaltender, entspannter, gelassener sein lässt, weil wir uns die Bestätigung an anderer Stelle holen und nicht darauf angewiesen sind, dem Gegenüber sofort eins reinzubraten.
Ach übrigens, die einleitenden Beispiele habe ich alle auch bei Twitter gefunden:
Schimpfende Autofahrer, die sich über den Vordermann aufregen.
Bahnreisende, die den Schaffner anpöbeln. (Oder umgekehrt.)
Nachbarn, die sich gegenseitig beschimpfen.
Die Sprechstundenhilfe, über die man sich ärgert.
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Auf Twitter findet man mich übrigens hier: http://twitter.com/oetting