Wer je "All The President's Men" / "Die Unbestechlichen" gesehen hat, kann sich der Faszination von echtem investigativen Journalismus nicht entziehen. Und wer als wahrer Demokrat in einer Demokratie lebt, ebensowenig. Um ein funktionierendes Gemeinwohl aufrecht zu erhalten, brauchen wir Profis, die sich mit den elementaren Problemen, Skandalen und Geschichten unserer Zeit wirklich intensiv auseinandersetzen können, um sie an die Öffentlichkeit zu bringen - damit wir alle erfahren und bewerten können, wer an den Stellschrauben von Macht und Einfluss dreht, wer Kunden hinter's Licht führt, oder wer Gift in die Ozeane kippt. (Nicht jedoch sollten sie sich mit völlig nebensächlichen Dingen befassen und sich dabei lächerlich machen.)
Blogger können dies nur unvollkommen leisten - eben weil sie keine Profis sind. Es braucht Zeit und natürlich auch finanzielle Unabhängigkeit, um dieser Aufgabe wirklich gerecht zu werden. Und die wenigsten Blogger sind unabhängige Vollzeitschreiber - weder hierzulande noch anderswo auf der Welt. Und genau deswegen halte ich die ständigen Gegensatzbildungen zwischen Bloggern auf der einen und Journalisten auf der anderen Seite auch für unnütz. Journalisten werden gebraucht. Wir brauchen Leute, die aufpassen, ohne mitzumachen. (Dabei gilt durchaus, dass man auf einem privaten Blog journalistisch professionell tätig sein, und dass ein Journalist in einer "offiziellen Publikation" extrem miserables Zeug schreiben kann. Aber das ist ein anderes Thema.)
Aufgrund dieser Gedanken macht mir die Medienkrise zu schaffen: wer hält Wache, wenn die professionellen Medien einen langsamen unaufhaltsamen (?) Abstieg erleben? Wer bezahlt Leute allein dafür, die Augen offen und den Stift gespitzt zu halten? Die andere Öffentlichkeit, die gerade entsteht, kann diesen Bedeutungsschwund der klassischen investigativen journalistischen Tätigkeit nicht auffangen. (Im übrigen glaube ich, dass der echte investigativen Journalismus nicht an Blogs & Co. leidet, sondern vor allem daran, dass die Medien Populismushatz im großen Stil betreiben. Wer mal darauf achtet, wie sich Titelblätter gleichen und immer denselben Geschichten nachgehetzt wird, über die schon alle anderen schreiben, der weint dem einen Reporter, der an seinen eigenen Geschichten arbeiten darf, schon die eine oder andere Träne nacht...)
Von Gedanken dieser Art beunruhigt, hat mich daher der Text von Dave Winer unter dem Titel "How investigative research happens in the blogosphere" geradezu elektrisiert. Denn er hat für mich eine gedankliche Lücke geschlossen, die ich selbst nicht zu füllen vermochte. Mit einer sehr plausiblen Überlegung: im Web findet der investigative Journalismus heute nicht mehr dadurch statt, dass (wie weiland Bob Woodward und Carl Bernstein) Leute mit Notizblock und Telefon bewaffnet die richtigen und die wichtigen Leute so lange bearbeiten, bis diese die Wahrheit sagen. Sondern im Web - und ich komme mir richtiggehend blind vor, weil ich diese Verbindung bisher nicht hergestellt habe - funktioniert die investigative Seite über den Dialog mit den Lesern! Die Weisheit der vielen ist der Schlüssel zum Fact-Checking.
Mit anderen Worten sind das Korrektiv nun nicht mehr die "zwei unabhängigen Quellen", die eine Geschichte bestätigen müssen, damit sie wirklich taugt, gedruckt zu werden. Denn im Web wird nicht mehr gedruckt, im Web wird vorgeschlagen. Eine Version einer Geschichte - so, wie sie dem Schreiber bekannt ist, nachdem er sich, eine gewisse Zeit lang, mit ihr nach bestem Wissen und Gewissen befasst hat. Aber dann erst geht der zweite Teil des Investigationsprozesses los, in den Kommentaren: eine kritische Masse an Lesern vorausgesetzt, wird es genügend viele unter ihnen geben, die Lücken finden, Fehler, Unklarheiten. Und diese aufdecken. Manchmal aus Eigeninteresse, manchmal aus Profilierungssucht, manchmal aber einfach, weil sie es wirklich besser wissen: "Der Typ, über den Du schreibst, wohnt bei mir im Haus, und es stimmt einfach nicht, dass ..."; "Nein, ich habe das Produkt bereits in Japan testen können, und es funktioniert nicht." Etc. etc. Und viele werden dieses oder ähnliches (Besser-)Wissen mit eigenen Quellen im Netz belegen können. Wenn nun die journalistische Arbeit diese Wissen nicht ignoriert, sondern als integralen Bestandteil ihrer Arbeit anerkennen könnte, genau dann könnte man das Entstehen einer Reportage als ein dynamisches sich öffentlich entwickelndes Verfahren begreifen, welches das externe Wissen nun aufnimmt - wiederum prüft! - und dann, nach einer gewissen Zeit in eine "endgültige vorläufige" Version gießt, die dann vielleicht auch auf Papier angeboten werden kann.
Nun könnte man sagen, dass das, was ich hier beschreibe, eigentlich nichts anderes als Bloggen ist: ich schreibe was, und dann gucke ich, was an Kommentaren kommt, und dann revidiere ich womöglich ein paar Dinge - entweder im Artikel durch Korrekturen, oder durch einen neuen Artikel. Zunächst mal ist das so nicht falsch.
Ich würde aber gern einen Schritt weitergehen und das als strukturierten Prozess für den journalistischen Alltag vorschlagen. Und zwar in etwa so:
Ein Journalist recherchiert eine Woche lang für einen neuen Text. Dieser wird im Netz veröffentlicht, auf einer trafficreichen Medienseite mit dem entsprechenden Publikum - als Versionsnummer 1.0. Nun passiert das, was passiert, wenn Kommentare offen sind: die Leute ergänzen, verbessern, korrigieren, kommentieren, verlinken. Und steuern damit Zusatzinformationen bei, mit denen der Originaltext - eventuell! - besser, richtiger, zutreffender wird. Vielleicht melden sich ja auch die vom Artikel Betroffenen selbst? Im Tagesablauf nimmt nun ein zweiter Redakteur die Anregungen auf. Ein zweiter Redakteur deshalb, weil er den Text nicht selbst geschrieben hat und damit viel weniger Gefahr besteht, dass er/sie ihn aus Eitelkeit gegen Änderungen verteidigen will. Wer Texte schreibt, weiß, wie groß die Neigung sein kann, an seinen eigenen Worten zu kleben. Oder an den Quellen, denen man vertraut, einfach weil es die eigenen sind. Um das zu verhindern, muss ein Kollege die Anregungen aufnehmen, ihnen nachgehen und - sukzessive - in den Text einpflegen, jedes Mal mit neuer Versionsnummer gespeichert, damit man die Evolution des Textes (à la Wikipedia) nachverfolgen kann. Wenn die Menge an neuen Informationen und an neuen Quellen sich erschöpft, wenn nichts mehr nachzukommen scheint, wird der Text als vorläufig endgültig deklariert.
Damit steht er für Veröffentlichung in einem Umfeld, das weniger auf Debatte angewiesen ist, zur Verfügung. Beispielsweise auf Papier. Man könnte ihn zum Beispiel nun einem Format wie einer personalisierten Zeitung anbieten. Man könnte ihn an ein Distributionsverfahren ausliefern, welches über drahtlos angesteuerte Drucker Zeitungen für den Vertrieb an Fluggesellschaften oder die Bahn lokal vor Ort ausdruckt. Vielleicht ist Mikropayment der Weg, um die Arbeit zu bezahlen?
Vor allem aber: der zweite Redakteur ist auch noch eine ganz andere Art Instanz - indem er Quellen aus den Kommentaren aufnimmt und validiert, kann er auch die Zusatzleistung der vielen Kommentatoren bewerten - wer als erster einen hilfreichen Fakt hinzufügt, wer ein Originalzitat findet, das im Text aufgenommen wird, wer mit seinem Kommentar dem Text eine entscheidende Wendung gibt, der sollte auch honoriert werden. Mit anderen Worten: ich möchte kein AAL-Projekt vorschlagen, bei dem die vielen Beitragenden letztlich ausgenutzt werden. Sondern ganz im Gegenteil muss diese Mitarbeit auch honoriert werden. Wiederum durch Micropayment vielleicht - an die Leser, die zugleich Mit-Ermittler und Fact-Checker sind.
Soweit meine Gedanken - zu neuen Modellen des investigativen Journalismus im Netz. Ich bin sicher, dass nun der eine oder andere Leser diesen Text sicher besser machen kann. Gerade, was die entsprechenden Business-Modelle betrifft.
[Disclaimer: ich bin kein Journalist und war nie einer. Bin also letztlich der Blinde, der ein wenig von der Farbe redet.]