Die Virus-Analogie im Marketing hat mich schon immer gestört. Ich habe mich immer unwohl dabei gefühlt, den Marketingprozess mit einer Krankheit gleichzusetzen. Zum einen, weil das uns - die wir Marketing auf diese Weise organisieren wollen - in extrem schlechtem Licht dastehen lässt.
Aber das ist vielleicht weniger wichtig. Denn es könnte ja sein, dass Viral Marketers verdienen, im schlechten Licht zu stehen? Aber genau da setzt der zweite Kritikpunkt am Namen an: er sollte keine ungesunde Analogie nahelegen, denn es ist ein Ansatz, der das Marketing mit den Kunden und Nutzern auf bessere Weise organisiert, und nicht gegen sie, als Krankheit. Wenn ich daher hier und anderswo den Begriff Viral Marketing genutzt habe, dann weniger, weil ich ihn gut finde, und eher, weil ich weiß, dass er sich durchgesetzt hat und Leute dann irgendwie wissen, was gemeint ist. (Naja, mittlerweile setzen sich ja glücklicherweise auch Begriff wie "Word-of-Mouth Marketing" bzw. "Mundpropaganda-Marketing" durch. Wurde auch Zeit...)
Dieser Text vom MIT hat mir nun geholfen, mir selbst noch ein wenig mehr Klarheit zu verschaffen. Und diese Klarheit fasse ich in etwa wie folgt zusammen:
- Der Irrtum: Wer Marketing als Virus beschreibt, betrachtet den Kunden als passives Subjekt, welches sich ohne Immunschutz krank machen lässt.
Die Realität: Marketing mit dem Kunden ist auf die aktive Mitwirkung angewiesen. Und wer aktiv mitwirkt, ist nicht nur Subjekt, das einer Krankheit verfällt, sondern jemand, der nach eigenen Vorstellung handelt, verändert, verzerrt, verfeinert. Erst dann, wenn der Kunde ein Partner auf Augenhöhe ist, dem man ein Mitspracherecht gibt, werden echte Auseinandersetzung mit der Marke und bleibende Effekte entstehen. Wenn man ihn nur als einen Weiterleiter von vordefinierten Botschaften begreift, bleiben Engagement und Wirkung ähnlich niedrig wie bei klassischer Werbung. - Der Irrtum: Es gibt "geheime" Tricks, die im Vorfeld sicherstellen, dass die virale Werbekampagne funktionieren wird.
Die Realität: Jeder Mundpropaganda-basierte Marketingerfolg ist immer notwendigerweise auch das Produkt seines kulturellen Kontextes, der ihn ermöglicht, und abhängig von den Individuen, die ihn vorantragen. Damit ist das, was heute hier funktioniert hat, morgen dort vielleicht völlig nutzlos. Wenn man also allein darauf setzt, den passenden werblichen Trigger zu setzen, der die Sache ins Rollen bringt, dann hat man genau gar keine Garantie dafür, dass die Sache auch funktioniert. Die Werber, die von sich sagen, sie würden virale Werbung entwickeln, lügen. Das kann bei der Werbung nicht im Vorfeld geklärt werden. Es entspricht dafür einer Sicht, bei der der Werber wieder der smarte Strippenzieher ist und der Kunde das dumme Subjekt, welches einfach nur vor sich hinrepliziert. Wer Garantie für das Funktionieren will, braucht echte Interaktion - mit anderen Worten: der muss die Mundpropaganda im Dialog mit den Nutzern unterstützen. Nur dann ist gesichert, dass die Kommunikation relevant ist. - Der Irrtum: Man sagt "Viral Marketing" und alle wissen, was gemeint ist.
Die Realität: Die Vorstellungen davon, was Viral Marketing ist, gehen enorm auseinander. Werber denken bei Viral Marketing an Werbefilme. Wer dagegen mit einer Webplattform im Netz oder eigenem Blog den Dialog mit seinen Nutzern führt, der denkt bei viralem Marketing an Dialog und Austausch, an passionierte Nutzer und echte Fans, die Rückfragen haben, Probleme, und deren Engagement man stetig steigern kann, wenn man sich auf's Zuhören versteht.
Mein Tipp: man sollte sich immer sehr genau überlegen, was man unter viralem Marketing versteht. Erwartet man, dass die Kunden virales Replikationsvieh werden? Und wenn ja, was für eine Vorstellung hat man dann von den eigenen Kunden? Oder braucht man nicht eher echtes Engagement von Fans, die sich wirklich für die Marke ins Zeug legen? Für beides gibt es Lösungen im Netz. Aber nur eine Variante würde ich empfehlen.
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