Als ich im Jahr 2000 begann, mich für Mundpropaganda zu interessieren, hatte ich ein Buch sehr bald entdeckt: "The Anatomy of Buzz", von Emanuel Rosen. Nachdem Rosen als Marketing-Chef für die Software Endnote in jahrelanger Arbeit selbst die mächtige Wirkung erlebt hatte, die Mundpropaganda im Marketing ausübt, veröffentlichte er mit "Anatomy" 1999 ein Buch, das in bemerkenswerter Weise seiner Zeit in der richtigen Weise voraus war und dadurch bald zu einer Schlüssellektüre wurde. Denn kurz danach wurde das Thema "Buzz" in den USA populär, befeuert durch die Begeisterung für die New Economy, und in kürzester Zeit erschien eine ganze Reihe Bücher zum Thema "Mundpropaganda als Marketingaufgabe". Viele Autoren versuchten jedoch, nur schnell auf dem Hype zu reiten. Kaum jemand aber gab sich so viel Mühe und und steckte so viel echte Neugier in das Thema wie Emanuel dies getan hatte. Anders als Tipping Point von Malcolm Gladwell, das etwa zur selben Zeit erschien, wurde Rosens Buch kein Megaseller, der weit über die Marketinglandschaft hinaus Gehör und Leser fand. Aber es wurde das Buch, das wirklich nützliche Hinweise und Tipps gab und manche Zusammenhänge auf wirklich nachvollziehbare Weise erläuterte, sich jedoch fernhielt von überzogenem Hype und Spin, und keine falschen Versprechungen machte. Ein Marketingbestseller, den man guten Gewissens weiterempfehlen konnte, wenn jemand genau wissen wollte, wie das mit den Empfehlungen denn wirklich funktioniert.
2005 lernte ich die Kollegen von trnd kennen, 2006 stieg ich als Gesellschafter ein. Eines Tages erzählte mir Torsten Wohlrab (der eine Gründer von trnd), dass Rob Nikowitsch (der andere Gründer) irgendwann alle noch erhältlichen Exemplare der deutschen Fassung von Anatomy of Buzz bei Amazon aufgekauft hatte. Um sie an potenzielle Kunden und Interessenten zu verschenken - denn es war das Buch, das Mundpropaganda Marketing noch immer am besten erläuterte. (Und dabei war die deutsche Fassung unter dem einigermaßen schrecklichen Titel Net-Geflüster erschienen und streckenweise recht seltsam übersetzt ... )
Aber irgendwann taten wir uns schwer damit, "Anatomy" weiter zu empfehlen. Denn selbst wenn ein Buch noch so gut recherchiert und geschrieben ist - in der dynamischen Welt des Word-of-Mouth Marketing, die in den vergangenen zehn Jahren eine bemerkenswert rasante Entwicklung durchgemacht hat, veraltet es doch irgendwann. Denn "Anatomy" spricht weder über Facebook, noch über die Word-of-Mouth Marketing Association, und enthält auch nichts über den Net Promoter Score. Umso mehr haben wir uns Anfang 2008 gefreut, als wir erfuhren, dass Emanuel an einer neuen Fassung arbeitet, die all jenes Wissen hinzuzufügen versucht, welches sich in den vergangenen zehn Jahren gesammelt hat. Ich habe mich mit ihm dann auch im Januar 2008 in London treffen können und ein äußerst angenehm-entspanntes Frühstück mit ihm erlebt, bei dem wir über die unterschiedlichsten Aspekte des Word-of-Mouth Marketing sprachen.
Und morgen ist die neue Ausgabe da. (Zumindest ist in den USA der 24.02. das offizielle Erscheinungsdatum der englischen Ausgabe.) Und nachdem ich eine frühere Fassung schon als PDF habe lesen können, liegt nun das Buch vor mir auf dem Tisch. Folgend versuche ich einen kurzer Überblick darüber zu geben, was "The Anatomy of Buzz Revisited" dem Leser bringt. (Emanuel gibt übrigens einen eigenen Kurzabriss hier.)
Das erste Kapitel beginnt damit, anhand von drei Geschichten zu zeigen, dass Mundpropaganda idealerweise zunächst mit einem guten Produkt beginnt, dass das jedoch nicht alles ist. Vielmehr muss das Marketing dann ansetzen, um die entstehenden Konversationen zu unterstützen und immer wieder neu anzuregen. Das zweite Kapitel unterscheidet dann zwischen Mundpropaganda aus erster und aus zweiter Hand - und dass man auf beides achten sollte. Vor allem kann beides negativ sein, gerade auch die Mundpropagand aus zweiter Hand. ("Ich habe das [Produkt] noch nicht verwendet, aber ich glaube, dass es schlecht ist.")
Das nächste Kapitel fügt ein entscheidendes Element hinzu, was im ersten Buch gefehlt hat - die vielen verschiedenen Facetten und Varianten der Mundpropaganda im Internet ("Online Buzz"). Dabei geht es unter anderem darum, dass dank Web Meinungen und Ideen aus der Masse aggregiert und dadurch zu nützlicher Information gemacht werden können ("Wisdom of the Crowds"). Eine erfolgreiche Kampagne von Adidas auf MySpace wird ebenfalls beschrieben. Auch das darauf folgende Kapitel - Nummer vier - handelt von online Word of Mouth, bzw. von der Frage, warum gerade jetzt das Thema Mundpropaganda so auf der Tagesordnung ist: weil die Sichtbarmachung der Mundpropaganda im Web den Marketingentscheidern mittelfristig keine andere Wahl lässt, als sich mit der Sache auseinander zu setzen. Vor allem aber: dass man sich als Marketingverantwortlicher nicht entscheiden sollte zwischen online oder offline "Buzz", sondern dass beides Aufmerksamkeit verdient. Auch der Net Promoter Score findet hier Erwähnung - als ein wichtiger Faktor, der im angelsächsischen Raum viel Aufmerksamkeit auf das Thema WOM gelenkt hat.
Das führt auch schon zu Kapitel 5, zum Thema "Messbarkeit von Mundpropaganda". Emanuel beschreibt, dass er bei der Arbeit am ersten Buch keine Firmen finden konnte, die sich aktiv mit Mundpropagandaforschung befasst haben. Ein Jahrzehnt später sieht die Sache sehr anders aus - er berichtet von der Arbeit von KellerFay, und von Nielsen Buzzmetrics, von David Godes (Harvard), von unseren Kollegen bei BzzAgent, und von Walter Carl (mit dem wir auch zusammenarbeiten). Kapitel sechs geht dann mehr ans Eingemachte - wie arbeiten Firmen daran, WOM auszulösen. Am Beispiel einer Kampagne von Tremor (mit Vocalpoint die WOM Unit von P&G in den USA) für die Marke Clairol wird erläutert, wie ein "WOM Trigger" entwickelt wurde - also ein Element, das mit dem Produkt verteilt wird, um Mundpropaganda auszulösen. Wichtig dabei vor allem die Erkenntnis, dass man zunächst auf seine Kunden achten, sich für sie interessieren muss, um ihrer Motivation für Mundpropaganda auf die Spur zu kommen.
Im folgenden Kapitel - deutlich länger als die meisten davor - beschreibt Emanuel die vielen verschiedenen Gründe dafür, warum Menschen anderen Menschen Produktempfehlungen geben, oder - allgemeiner - welche Motivation dahiner steckt, mit anderen unsere Erfahrungen zu teilen. Dabei geht es um psychologische Treiber, wie den Aufbau und die Pflege von Beziehungen, oder um die Verbesserung unserer Selbstwahrnehmung - dadurch, dass wir anderen gute Tipps geben und uns damit als Experte oder zumindest kenntnisreiche Person fühlen können. Das nächste Kapitel, auch ein längeres, dreht sich um das interessante Thema der Meinungsführer. Gleich zu Beginn wird anhand eines Beispiels von Microsoft erläutert, warum Meinungsführer ganz anders ticken als Markenfans. Bei Emanuel heißen die Influentials oder Meinungsführer übrigens nochmal anders, er nennt sie "Hubs" (das war auch in Ausgabe eins schon so). Die Debatte, die dank Duncan Watts und Peter Dodds aufkam, nimmt er auf und diskutiert, dass es in manchen Fällen nützlich sein kann, auf Meinungsführer zu setzen, in anderen aber nicht. (Wer sich dafür interessiert, sollte auch diese beiden Blogsposts hier auf dem Blog lesen.)
Kapitel 9 setzt auf das Thema soziale Netze. Und hier sind zunächst nicht Facebook oder XING gemeint, sondern es geht darum, dass wir alle sozial vernetzt sind - mit Freunden, Kollegen, etc. - und dass ganz unterschiedliche Kommunikation durch diese verschiedenen Netzverbindungen fließt. An dieses Kapitel erinnere ich mich noch aus der alten Ausgabe; hier ist es natürlich ergänzt und erweitert um die Aspekte, die durch die digitalen Social Networks dazu gekommen sind. Wie Birkenstock-Schuhe in die USA gelangt sind, erzählt Rosen auch anhand der Netzwerksicht - der Schlüssel war dabei offenbar, dass manche Leute unverbundene Netzwerk-Cluster verbinden und damit neue Informationen in ein Netzwerk tragen können. Um im darauf folgenden Kapitel praktisch zu erläutern, wie Mundpropaganda sich durch unterschiedliche soziale Netze verbreitet, greift Emanuel auf eine sehr ausführliche Case Study zurück, die er bereits in der ersten Ausgabe verwendet hat - die Erfolgsgeschichte des Buches Cold Mountain (das später auch zu einem Kinofilm verarbeitet wurde).
Das folgende Kapitel befasst sich mit einem meiner absoluten Lieblingsthemen - "ansteckende" Produkte. Der beste Startpunkt für Mundpropaganda sind Produkte, die sich von selbst verbreiten. Entweder, weil sie so genial sind, dass Leute einfach darüber sprechen wollen, oder aber, weil ein eingebauter Mechanismus dafür sorgt, dass sie Mundpropaganda anregen. Beispielsweise, weil sie bei ihrer Verwendung auffallen. Es geht um Hanky Panky Stringtangas, um Blair Witch Project, oder um den Palm Pilot. Und hier der Schlüsselsatz: "Behind every contagious product there's a stubborn and strong-minded person who refuses to compromise." (Was übrigens auch für trnd gilt - bei uns ist das Rob Nikowitsch.) Kapitel 12 greift auf, was am Anfang stand: Mundropaganda muss man nicht einfach passieren lassen, sondern unterstützen und anregen. Beispielsweise, weil selbst die größten Fans nicht von "ihrem" Produkt sprechen, weil sie schlicht nicht daran denken. Oder weil manche Produkte an richtiger Stelle bereitgestellt für Mundpropaganda sorgen können, wo sonst keine entstanden wäre.
Kapitel 13 ist brandneu und behandelt das Thema "Transparenz" und ethische Fragen: was muss man beim Mundpropaganda Marketing beachten, damit man nicht in die Gefahr gerät, "undercover" Marketing zu betreiben oder anderen Unfug, der dazu führt, dass Kunden Vertrauen verlieren und vielleicht der gesamte Ansatz leidet. Im darauf folgenden Kapitel geht es um Seeding - wie verteile ich mein Produkt an die richtigen Stellen und an die richtigen Menschen, damit Mundpropaganda entsteht? Es passt damit einerseits zu Kapitel 12, andererseits gibt es aber auch Verbindungen zum Kapitel über die Meinungsführer. Die beiden Kapitel danach, Nummer 15 und 16, beschreiben Beispiele, in denen interessante Geschichten - "Storytelling" - eine wichtige Grundlage für erfolgreiches Mundproganda-Marketing sind. Kapitel 17 wiederum behandelt einen meiner Favoriten: Partizipation der Kunden oder Interessenten als Grundlage für Word-of-Mouth Marketing. Paul Marsdens und mein Artikel aus "MarketingProfs" (PDF) wird zitiert, und Emanuel beschreibt, dass sich eine Art Partizipationsgefühl auch auf sehr einfache Weise einstellen kann - weil man beispielsweise hinter die Kulissen schauen darf oder sich mit einer Sache sehr identifiziert.
Dass man durch Sneak Previews und sehr bewusstes Zuspielen von Informationen an die richtigen Leute das Mundpropaganda-Potenzial eines Produktes ausnutzen kann, wird in Kapitel 18 beschrieben. Konkret geht es um den Launch zweier Produkte (BMW Z3 und Super Mario Brother 3), die in Kinofilmen angeteasert wurden. Die darauf folgenden beiden Kapitel behandeln unterschiedliche Buzz-Stories, unter anderem geht es auch darum, wie die Medien Mundpropaganda durch ihre Berichterstattung unterstützen können. Und direkt im Anschluss untersucht Emanuel das Verhältnis zwischen WOM und Werbung: Wie kann Werbung Mundpropaganda auslösen? Wann wirbt man zu viel und tötet Mundpropaganda ab? Letztlich empfiehlt Emanuel Pragmatismus und rät schlicht dazu, zu prüfen, was funktioniert.
Damit bleiben noch drei Kapitel. Nummer 22 dreht sich um ein Thema, das oft übersehen wird, wenn es um Mundpropaganda geht: die Rolle des Handels. Das Kapitel beschreibt wie Menschen, die passionierte Verkäufer sind, im Handel die Mundpropaganda für Produkte unterstützen und befeuern können. Das vorletzte Kapitel beschreibt sieben Fallstudien, aus denen hervorgeht, wie Word-of-Mouth Marketing von Anfang bis Ende funktioniert. Und da eine Fallstudie darin unsere Kampagne für Wrigley beschreibt, und da wir von Emanuel die Erlaubnis bekommen haben, eine deutsche Version davon als PDF zu verbreiten, tun wir das hiermit: Reden die Leute wirklich über Kaugummi? Wrigley‘s Extra Professional (Download PDF) Und das letzte Kapitel im Buch ist ein "Buzz Workshop" - eine Sammlung von Fragen und Listen, die man durcharbeiten kann, um sich über sein eigenes Word-of-Mouth Marketing Gedanken zu machen.
Zusammenfassend dürfte eines klar sein: wenn so viele und so relevante Themen auf vergleichsweise knappen 311 Seiten behandelt werden, kann vieles nur angerissen bzw. nur sehr knapp beschrieben werden. Und wenn ich versuche, mich an "Anatomy" von 1999 zu erinnern, erscheint mir manches Kapitel kürzer und vielleicht auch flacher. Aber das ist wohl nicht anders machbar - zu viel ist passiert, als das man alles in derselben Tiefe wie damals darstellen könnte. Und wer tief in das Word-of-Mouth Marketing einsteigen will, der muss ohnehin ständig weiterlesen und sich irgendwann spezialisieren. Für beides bietet der Anhang dann auch reichlich Quellen. Das Buch ermöglicht einen schönen Überblick, über sämtliche relevante Aspekte des WOM Marketing. (Wer über seit 2005 auf diesem Blog mitgelesen hat, der wird vielleicht nicht mehr so viel Interessantes Neues finden. Aber gut, wer hat das schon. ;)
Und mein persönliches Fazit? Von 2000 an habe ich - zuallererst noch bei Grey - an Präsentationen geschraubt, mit denen ich Kunden überzeugen wollte, die Arbeit mit Influentials auszuprobieren oder virale Ansätze zu versuchen. Geschätze 70% meiner Charts basierten damals letztlich auf dem Buch von Emanuel. Dass ich heute - sieben Jahre später - Emanuel persönlich kennengelernt habe, die Neuauflage in der Hand halte, darin zitiert werde und von unserer Firma eine Case Study drin steht, ist ein ganz besonderes Vergnüngen. Wer knapp und dabei umfassend verstehen will, wie Word of Mouth Marketing funktioniert, der sollte sich dieses Buch besorgen. Und außerdem dann gleich seinen Freunden davon erzählen.
Wir bemühen uns derzeit darum, Emanuel für einen Vortrag nach Deutschland zu holen. Und wir hoffen auch, dass wir uns an der Entwicklung einer deutschen Fassung des Buches beteiligen können.
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