Schon seit ewiger Zeit lungert auf meinem To-Do-Stapel ein Blogposting herum, das ich nun endlich zu schreiben schaffe. Bereits im April letzten Jahres hat Jochen Krisch einen Eintrag unter dem Titel Wie lassen sich virale Effekte in Kennzahlen fassen? verfasst, in dem er der Frage auf den Grund geht, auf welche Weise sich virales Wachstum am besten messen lässt.
Interessanterweise beschränkt sich Jochen jedoch bei seinen Vorschlänge zu dem Thema auf die "Hubschrauberperspektive": Er verlinkt unterschiedliche Autoren, die alle über Wachstumskurven und Sättigungsgrenzen und verwandte Konzepte nachdenken - also über solche Ansätze, die auf eine abstrakte Betrachtung der Zahlen abzielen, die einem der eigene Web-Server ermöglichen kann. Hubschrauberperspektive nenne ich es deswegen, weil es der Untersuchung von Entwicklungen aus der Luft gleicht - man versucht aus der Ferne und mit hohem Abstraktionsgrad zu verstehen, welche Strukturen sich in den Nutzerdaten ergeben, an welchen Stellen mehr Wachstum entsteht als anderswo. Also in etwa so, als würde man die Entwicklung des Straßenverkehrs in einer Stadt zu beobachten versuchen.
Natürlich ist das für das Verständnis von viralem Wachstum ein sehr wichtiger Ansatz. Es ist aber meiner Ansicht nach nur die eine Seite der Medaille. Denn es entspringt einer Denkweise, die letztlich aus dem TV- und Massenmedienzeitalter stammt: Ich kann das Verhalten der Massen nur im aggregierten quantitativen Verfahren aus der Vogelperspektive erfassen und muss es daher auf dieser Ebene analysieren. Eine andere Art des Zugriffs bleibt mir verwehrt. Aus Sicht eines massenmedialen Entscheiders ist das natürlich absolut korrekt. Aber aus der Sicht des Betreibers einer Internetseite ist es das nicht. Das Internet hat demgegenüber ja die echte Interaktivität zu bieten. Und daher eine entscheidende weitere Möglichkeit: man kann mit den Nutzern "reden"! Man kann die Nutzer an verschiedenen Stellen zu ihren Einstellungen und zu ihrem Verhalten befragen. Und damit auf eine zweite Weise Informationen darüber einsammeln, warum eine Plattform, ein Dienst an bestimmten Stellen wächst und an anderen nicht.
Natürlich müssen bei diesen Befragungen eine ganze Reihe von Dingen beachtet werden. Zunächst mal gilt, dass man bei Befragungen aller Art die Regeln (und die Unzulänglichkeiten) empirischer Sozialforschung beachten sollte. Sonst bekommt man Antworten, die nichts wert sind und die einen, schlimmstenfalls, auf die falsche Färte weisen. Dazu gehört auch, dass man insbesondere auf die Unterschiede zwischen quantitativer und qualitativer Forschung achtet und die jeweiligen Stärken und Schwächen richtig ausspielt. Aber gerade die qualitative Forschung - die direkte Auseinandersetzung mit einem Gegenüber und allen seinen Argumenten, Zwischentönen und Nuancen - ist im Web, und gerade beim Dialog zwischen Plattformanbieter und Plattformnutzer, eine einmalige Stärke.
Was vielleicht etwas theoretisch klingt, will ich praktischer erläutern.
Schon häufiger habe ich hier über den Net Promoter Score geschrieben. Es ist ein Maß, welches die Weiterempfehlungsbereitschaft von Kunden erfasst und sie dabei in drei Gruppen (Promoters, Passives, Detractors) einteilt. (Wie man den NPS errechnet, steht hier.) Die für die Erfassung des NPS notwendige eine Frage - "auf einer Skala von 0 bis 10, wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie diesen Dienst an Freunde und Bekannte weiterempfehlen würden" - kann man nun auf seiner Webplattform den Nutzern stellen. Vielleicht lädt man sie gar mittels Newsletter dazu ein, kurz diese Frage zu beantworten? Vielleicht bildet man gleich ganz wissenschaftlich ein Bündel aus mehreren Fragen zum Empfehlungsverhalten, die gemeinsam das tatsächliche Verhalten besser abbilden als nur eine einzelne Frage dies kann.
Nehmen wir nun an, mehrere tausend Leute machen dabei mit. In einem nächsten Schritt kann man sich nun deren Antworten genauer ansehen: Lassen sich Gruppen bilden? Was haben die Leute gemeinsam, die die niedrigsten Werte vergeben? Was eint die, die die höchsten verteilen? Hat man überhaupt Promoter? Und wenn ja, wieviele? Gibt es insgesamt einen größeren Anteil Leute, die den Dienst an Freunde weiterempfehlen würden? Oder ist die Zahl der Skeptiker, der Nichtempfehler, größer? Wenn man Gruppen bildet (Männer-Frauen, Alte-Mittlere-Junge, Norden-Süden-Westen-Osten, was weiß ich ...), welche Gruppe hat dann den höchsten Score, welche den niedrigsten?
Wenn man nun rausgefunden hat, wer sehr positiv eingestellt ist und ein deutlich positiv ausgeprägtes Weiterempfehlungsverhalten an den Tag legt, kann man aus diesen Leuten vielleicht eine technisch "isolierte" Gruppe bilden und nur ihnen Fragen dazu stellen, warum sie so angetan sind. Dabei muss man sich sowohl mit quantitativen und qualitativen Fragen befassen - wenn man nur geschlossene Fragen mit Auswahlmöglichkeiten stellt, lässt man vielleicht die wirklich wichtigen Punkte aus. Wenn man nur offene Fragen stellt, rauft man sich hinterher die Haare, weil man sie nicht auswerten kann.
Die sehr negativ eingestellten Teilnehmern aber - und hier wird es besonders spannend - muss man ganz besonders sorgfältig befragen. Denn nichts bringt so viel für das Weiterempfehlungsverhalten, als wenn man von unzufriedenen Leuten erfragt, was sie stört und ärgert, und das Problem dann löst. Und - wichtig: es ihnen hinterher auch mitteilt, dass sich ihretwegen etwas geändert hat. So schafft man sich Fans. Dabei kann es vereinzelt auch durchaus nützlich sein, einem besonders verärgerten Kritiker ein Telefonat anzubieten, oder doch zumindest einen persönlichen Austausch per Email. Der Kritiker wird das zu schätzen wissen. Und die Erkenntnisse könnten mehr als interessant sein.
Als Radar für die Fragestellungen, die man vielleicht mit seinen Nutzern oder Mitgliedern diskutieren sollte, kann auch ein Blog sehr nützlich sein. Wenn man ein Blog als Interaktions- und Dialogschnittstelle für die eigenen Nutzern betreibt, kann man damit auf hervorragende Weise über entsprechende Fragestellungen in den Postings und über die Kommentare, die eingehen, neuralgische Punkte finden und relevante Themen aufdecken und dazu dann Umfragen starten. Auf dem Blog sollte man auch immer wieder dokumentieren, was über die Befragungen herausgekommen ist, und an was die Macher des Projektes gerade arbeiten. Dadurch gibt es für die Mitglieder dann auch immer noch eine menschlich-qualitative Möglichkeit, wiederum ihr Feedback loszuwerden. (Wichtig: man kann es mit Befragungen auch übertreiben und seine Nutzer damit nerven. Das sollte man lassen!)
Ich will keinesfalls behaupten, dass der Net Promoter Score die einzige Befragungsmethode ist, die man verwenden sollte. Fragenkomplexe mit mehreren Fragen zum selben Thema sind, siehe oben, ohnehin zuverlässiger. Ich habe ihn nur als recht anschauliches Beispiel verwendet. Manch einer setzt vielleicht lieber auf andere Kenngrößen oder entwickelt seine eigenen. Wichtig ist mir nur, dass bei der Arbeit mit dem Web nicht vergessen werden sollte, dass wir in ein neues Zeitalter der echten Interaktion eintreten. Das Gestern, in dem Verbraucherverhalten allein mit großen aggregierten Zahlenkollonnen erfasst wurde, beginnt sich zu wandeln - heute fordern nicht nur Forscher, sondern auch die im Web Aktiven, dass man dem Einzelnen mehr Interesse im Dialog widmet. Nicht, weil das so nett ist. (Das auch.) Aber weil es einfach rein geschäftlich Sinn ergibt. In einer Zeit, in der die Medienlandschaft sich aufsplittert und Kaufentscheidungen und Nutzungsverhalten immer stärker im sozialen Kontext beeinflusst werden, kann man dadurch zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: man kann die Macht der Beziehungspflege für Mundpropaganda durch echten Austausch nutzen - ein Unternehmen, das mir persönlich zuhört, empfehle ich lieber weiter. Und im selben Atemzug kann man Erkenntnisse über bislang verschenktes virales Potenzial der eigenen Plattform sammeln.
Märkte sind Gespräche. Nicht nur Serverdaten.
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