Gastbeitrag von Stefanie Woit.
Ich bin 27 Jahre alt und streng genommen kein Digital Native. Natürlich gehe ich mit dem Internet mittlerweile so selbstverständlich um wie mit einem Toaster – Content rein, braten lassen, Content raus – aber nur jedem unter 25 Jahren wird in der Agenturbranche derzeit Unbestechlichkeit bezüglich seiner Netzkompetenzen zugesprochen. So jedenfalls geschehen auf dem 1. Art Directors Club Brand and Ideas Congress (ADC BIC) in Berlin am vergangenen Donnerstag im Kreuzberger Umspannwerk. Da lieferten sich zahlreiche Kreative und Web-Affine aus den USA, Deutschland, Japan, Finnland usw. aufschlussreiche Vorträge zu ihren Thesen über’s Internet und dessen Nutzer (z.B. Chuck Porter von Crispin Porter & Bogusky oder auch Morten Lund, betitelt als Startup-Ideologe, Investor von Skype), über den beschämenden Kreativ-Output, den deutsche Online-Werbung derzeit noch bringe (Amir Kassaei, DDB Gruppe Deutschland) oder auch über das Ärgernis Blogger, der ja praktisch anonym Meinungsbildung im Netz betreibe (Jean-Remy von Matt, Jung von Matt). Bei der Gelegenheit lernte ich auch gleich zwei Synonyme für die Zunft der Blogger und ihrer Aktivitäten: „Army of Davids“ oder auch „Loser Generated Content“.
Besonders Herrn von Matt hatte es die Kategorie des „Viral-Marketing“ angetan, um über Sinn und Unsinn des Internets zu referieren. Leicht kam der Eindruck auf, Matt sei etwas verbittert über den unkontrollierbaren Erfolgsquotienten User, YouTube sei quasi ein Massengrab der Viral-Spots. Und fragte leicht resigniert, wie könne man einen Viral-Spot erfolgreich machen? Dass virale Maßnahmen oft den weniger erwünschten Effekt haben, dass der Film zwar funktioniert und weitergeleitet wird, aber sich kaum einer der User danach an das Produkt erinnert, davon keine Rede. Morten Lund antwortete von Matt kurz nach dessen Vortrag dann auch recht trocken, Viral sei ja nur eine Art, Begeisterung zu wecken und anzustecken.
Paul Marsden, u.a. Co-Autor des Buches „Connected Marketing“, sprach dann noch gezielt zu Buzz und Word-of-Mouth. „Why do people recommend? Because there is a expectation-beating product experience”. Dass das nicht immer einfach zu erreichen sei, machte er dem Publikum an einem Beispiel klar. Zunächst sollten alle aufstehen. Die, die Kinder hätten, sollten bitte stehen bleiben, der Rest setzte sich. Nun sollten sich alle diejenigen hinsetzen, deren Kinder unter dem Lern- und Bildungsniveau des Durchschnitts lägen. KEINER setzte sich, worauf Marsden treffend bemerkte, dies könne statistisch nicht hinhauen. Genauso sei es mit den Produkten, die eine Agentur betreut: grandiose Selbstüberschätzung. Wir lachten.
Zumindest, und da waren sich die meisten Referenten einig, gibt es eine Art Fazit dieses Kongresses: die Kommunikationsbranche ist einfach nicht so weit, wie sie sein müsste. Da gibt es gerade einen Großbrand und keiner der Professionals hat das Zeug zum Feuerwehrmann; hätten Architekten ihre Berufsausbildung so ernst genommen wie die Kreativen der Kommunikationsbranche, würden wir in kein Haus mehr treten (frei nach Sebastian Turner, u.a. Vorstand ADC). Das Potential von Word-of-Mouth wird dabei zwar in den meisten Agenturen erkannt, aber entweder nicht verstanden, nicht effektiv angegangen oder gleich ganz vernachlässigt. „Die Leute sind selbst das Medium, das wird noch extrem unterschätzt“, so Amir Kassaei dazu. Dass eine Marke begeistern muss (also ihre Gesamtheit und nicht nur ihre Kommunikationsmaßnahmen), damit sie weiterempfohlen wird, fasste dann aber doch noch Al Kelly von Fallon Minneapolis zusammen: eine Marke, ergo ihr Sprachrohr, die Kreativen, müsse „generosity“ zeigen, „what means: creating something with cultural value, informational value or entertainment value.“ Keine neue Erkenntnis, aber wenigstens keine Gleichsetzung von gutem Online-Marketing mit Viral-Marketing. Kassaei stieß in diesem Sinne auch noch ein Thema an, welches Auftragskommunikation in den nächsten Jahren vermutlich weiter schütteln wird: die Ganzheitlichkeit von Marketingkommunikation, die dann nämlich endlich auch in der Produktentwicklung beginne und sich bis in den Vertrieb fortsetze. Fragt sich nur, was dann eigentlich noch so ein Unternehmen macht – die Produktionsstätten fegen?
Zum Schluss noch eine kleine Anekdote zu den wahren Auswüchsen dieses Web-Paradigmenwechsels: fragt die kleine Tochter von Amir Kassaei, „Papa, wie sind die Leute eigentlich früher ins Internet gegangen, als es noch keine Computer gab?“
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Dazu mein (M. Oetting) Kommentar: klingt so, als hätte die gesamte Veranstaltung darin bestanden, über unsere Arbeit bei trnd zu sprechen - ohne, dass über uns gesprochen worden wäre. ;-)
Nachtrag 20:34 MEZ: Die Branchenbezeichnung "Loser Generated Content" ist ja eigentlich bemerkenswert ahnungslos & frech. Das war mir beim ersten Posten gar nicht so aufgefallen, dank an Martin für den Kommentar.