Kürzlich hatte ich bei einem Vortrag ein interessantes Erlebnis.
Um mit der wachsenden Macht der Nutzer und Kunden im Internet und ganz allgemein mit Mundpropaganda umzugehen, habe ich in meinem Vortrag darüber gesprochen, dass auch im Massenmarketing die simple Idee vom Endverbraucher, den man auf einfache Weise manipulieren kann, aufgegeben werden sollte – zugunsten einer neuen Konzeption vom Kunden, mit dem man auf Augenhöhe redet. Natürlich kann kein Unternehmen einen intensiven Dialog mit Millionen von Kunden führen. Die grundsätzliche Überlegung dabei ist darum, dass man sich im Marketing um diejenigen Leute kümmern sollte, die schon ein Interesse am Unternehmen und an den Marken mitbringen, die also von sich aus bereit sind, sich am Marketingprozess zu beteiligen. Denn diese tragen dann - das weiß ich auch aus meiner Forschung - die Begeisterung weiter in ihr Umeld, stecken andere an, machen Mundpropaganda. Sie helfen also, die Millionen zu erreichen, auf eine nachhaltige Art und Weise.
Unsere Arbeit mit der trnd-Community ist dafür ein erster Schritt: wer Begeisterung für und großes Interesse an einer Marke bzw. an einer bestimmten Produktkategorie hat, kann in unseren Projekten neue Produkte testen, sie gemeinsam mit Freunden erleben, sich dazu austauschen und so mithelfen, sie bekannter zu machen. Dabei bitten wir die Teilnehmer vor allem um ihr Feedback, denn wir wollen den echten Dialog zwischen Unternehmen und ihren Kunden ermöglichen – insbesondere dort, wo das bisher nicht wirklich möglich war. Je mehr Fragen die Nutzer stellen, je mehr Input sie zu den Produkten und Projekten geben, desto besser kann das Unternehmen auf diesen Input eingehen. Das führt einerseits dazu, dass sich die Kunden ernst genommen fühlen, was sie wiederum anregt, mehr positive Mundpropaganda für den Anbieter zu machen.
Andererseits aber kann dies dem Unternehmen natürlich auch ermöglichen, einen Schritt weiterzugehen und Informationen von außen aufzunehmen, in die Produktentwicklung einfließen zu lassen, und so mittelfristig durch die Mitwirkung der Nutzer bessere Produkte zu entwickeln, in einer Art Crowdsourcing-Prozess. Um diese Aussicht zu illustrieren und zu zeigen, was durch externen Input alles möglich ist, habe ich zum Abschluss meines Vortrages die Geschichte der Firma Goldcorp beschrieben, die sich in Don Tapscotts Buch Wikinomics findet. Das Unternehmen betreibt eine Goldmine, brauchte dringend neue Inspiration für Grabungsstellen und wagte schließlich den Schritt an die Öffentlichkeit: alle Daten, die über die Mine bekannt waren, wurden öffentlich im Web gepostet, zusammen mit der Auschreibung für einen Wettbewerb, bei dem Einreicher mit den besten Ideen für Grabungsstellen einen Hauptpreis von einer halben Million Dollar gewinnen konnten. Das Unternehmen soll, laut Text im Buch, so viele wertvolle Hinweise erhalten haben, dass sie allein deswegen den Turnaround geschafft und einen fulminanten Aufstieg hinbekommen haben.
Bei der Konferenz, wo ich sprach, waren fast nur Unternehmenslenker oder sehr ranghohe leitende Angestellte anwesend. Einer von ihnen erklärte dann während der Fragen, dass es absolut nicht ratsam sei, die Kunden entscheiden zu lassen, was sie selber haben wollten. Das könnten Kunden nie selbst wissen und würden nur Dinge vorschlagen, die eigentlich niemand haben wolle – die Erfahrung habe er selbst bei entsprechenden Versuchen mit der Angebotspalette in Tankstellen gemacht. Daraufhin habe ich geantwortet, dass ich ihm schon zustimme, denn Innovation solle man nicht grundsätzlich outsourcen. Vielmehr sei dies die eigentliche Kompetenz des Unternehmens und müsse das auch bleiben. Aber ich sagte, dass ich es dennoch für ratsam halte, Kunden beim Prozess von Innovation und Marketing einzubinden und sie dabei an verschiedenen Stellen des Prozesses zu Rate zu ziehen, um ihren Input und um ihre Meinung zu bitten.
Daraufhin seine Reaktion: "Aha, das ist also nur Sales-Unterstützung und nicht der Produktentwicklung."
Nein. Es ist beides. Und noch mehr.
Aber für Leute, die heute in Unternehmen das Sagen haben, ist offenbar extrem entscheidend, in welche Schachtel ein Prozess gehört: "Ist das Marketing? Nein, das ist Marktforschung. Nee, kann nicht sein. Das muss Produktentwicklung sein." Bei fast jedem Vortrag über unsere Arbeit bei trnd höre ich dieselbe Frage: "Machen Sie eher Marktforschung oder eher Marketing?" Aber genau so einfach ist die Trennung eben nicht. Nicht mehr. Man kann – in der neuen Welt der Wikinomics und des Crowdsourcing – nicht einfach abgrenzen, wo Innovation und Produktentwicklung aufhört und wo Marketing anfängt, und an welcher Stelle alle anderen den Saal verlassen müssen, weil nun die Marktforschung dran ist. Das Problem ist, dass man aus dem Unternehmen heraus nicht mehr allein entscheiden kann, woher gute Ideen zu kommen haben. Und ebensowenig kann man allein kontrollieren, auf welche Weise ein Produkt bekannt wird. Wer streng festlegt, dass nur Produktentwickler großartige neue Produktideen haben dürfen, der übersieht vermutlich einen sensationellen Vorschlag, den ein Kunde in einem Internetforum macht. Ein Konkurrent übersieht den Vorschlag nicht, setzt ihn um und macht die nächsten Umsatzmillionen. Und wenn ein vielgelesener Blogger bereits vor dem offiziellen Marktlaunch das Produkt kaputtschreibt oder in den Himmel lobt, dann hat das mittlerweile ebenfalls eine Wirkung – auf die Markenwahrnehmung und auf den Umsatz.
Keine einzelne Abteilung hat mehr das Sagen in einem bestimmten Bereich allein. Lösungen, Anregungen, Input, Mehrwert kann von den unterschiedlichsten Stellen kommen – innerhalb des Unternehmens und außerhalb des Unternehmens, von der Buchhaltung genauso wie von einem Blogger. Für Unternehmen ist aber allein schon strukturell sehr schwer, mit diesem Problem umzugehen – ein Mitarbeiter in einem großen deutschen Konzern erklärte mir kürzlich, dass funktionsübergreifende Projekte (beispielsweise: Marketing und Produktentwicklung planen gemeinsam ein neues Projekt) einfach schon deswegen schwer zu organisieren sind, weil die Personalentwicklung nach ganz anderen Regeln belohnt: wer in seiner Abteilung bestimmte Ziele erreicht, wird befördert. Warum sollte jemand aus dem Marketing sich dann mit einer tollen Idee, die er in einem Blog entdeckt hat, bis zur Produktentwicklung durchkämpfen, wenn er persönlich von dem Durchbruch gar nichts hat?
Aber wenn sich die Unternehmen nicht daran gewöhnen, dass Grenzen verwischen und Aufgaben und Herausforderungen unternehmensweit und funktionsübergreifend angegangen werden müssen, werden sie voraussichtlich in einer extrem wettbewerbsintensiven Welt mittelfristig abgedrängt. Heute ist einfach alles weniger säuberlich geordnet, viel weniger eindeutig verschiedenen Abteilungen zugeordnet. "Tut mir leid, aber dafür bin ich nicht zuständig" geht einfach immer seltener. Everything is Miscellaneous.