Weblogs, Podcasting, YouTube, Tagging, Wikis, digitale Mundpropaganda, Relevanz, Verlinkungsgrad, Feedback, Online Dialog, Social Networking, Facebook, StudiVZ, MySpace, ... die aktuellen Entwicklungen im Netz sind so mannigfaltig wie unübersichtlich, so unvorhersehbar wie verwirrend, so ungeplant wie revolutionär. Und niemand scheint den einen verlässlichen Kompass zu besitzen, der einen Weg durch dieses Dickicht zu weisen vermag, das da vor unseren Augen und durch unser Mitwirken entsteht. Die einen gehen mit der Herausforderung um, indem sie den Kopf in den Sand stecken: "Kein Medium hat ein anderes je ersetzt", sagen sie, und morsen eine Botschaft an die Kollegen in der anderen Stadt, die sie zuvor mit der Schreibmaschine geschrieben haben. Die anderen stürzen sich mit blindem Enthusiasmus auf alles, was digital zu sein scheint, probieren aus und an, und interessieren sich vor lauter Enthusiasmus in den Wipfeln gar nicht mehr für den Weg durch den Wald. Und die dritte Gruppe – viele von ihnen Journalisten - steht daneben und hat einfach nur Angst.
Gibt es denn keine vierte Position, die dem Ganzen die Bedrohlichkeit aber nicht die Faszination nimmt? Kann man nicht vielleicht doch einen Pfad legen, der einem nicht die Augen verschließt, aber zugleich etwas Halt bietet?
Meine These: doch, das geht. Ich behaupte: Es gibt in diesem Wirrwarr 2.0 nur eine einzige Entwicklung, die es zu verstehen gilt. Wem das gelingt, der kann der medialen Zukunft gelassen ins Auge sehen.
Und diese Entwicklung ist die folgende: Die Anzahl der relevanten Gatekeeper steigt radikal und stetig steigend an. Punkt. Wer das verstanden hat, wird sich von nichts mehr schocken lassen.
Kurz zurückgeblickt: Früher hat es gereicht, die wichtigsten Redakteure zu kennen, in den wichtigsten Medien zu werben und bei Thomas Gottschalk auf dem Tisch in der Glasschale von "Wetten Dass" präsent zu sein. Der "Nutzer" saß davor und konsumierte.
Und heute? Die Nutzer konsumieren nicht mehr nur noch Medieninhalte – sie ordnen, sichten, verteilen, und vor allem: produzieren jetzt selbst. Ohne Redakteur, Chefredakteur, Sendeanstalt, Druckpresse, Distributionsverfahren, und vor allem: ohne Eintrittsbarrieren. Fast jeder halbwegs geschickte Web-Nutzer kann innerhalb weniger Minuten ein eigenes Blog im Netz betreiben, seine Bookmarks auf Bookmarking-Sites verbreiten und eigene Filme veröffentlichen. Auch wenn diese Aktivitäten von vielen Medienprofis nicht wirklich ernst genommen werden, sollte man anerkennen, dass auf diese Weise binnen kürzester Zeit eine Ein-Mann-Redaktion entstehen kann, die den Nachrichtenkonsum und die Informationsaufnahme von fünf oder auch 450 Leute beeinflusst.
Was sind die Folgen für die Medienlandschaft? Die klassischen Medienkanäle, die bislang verlässlich für die Verbreitung von Inhalten gesorgt haben, bekommen eine sehr vielschichtige Konkurrenz. Diese Konkurrenz wird sie nicht ersetzen. Jeder einzelne dieser neuen Kanäle hat – zumindest heute noch – eine recht beschränkte Reichweite. Selbst vielgelesene Blogger in Deutschland haben nicht mehr als einige Tausend Leser. Aber zusammengenommen zweigen die vielen Blogger, YouTube-Filmer, Facebook-Selbstdarsteller, StudiVZ-Gruschler, Forenautoren und Web-TV-Produzenten einen nicht unbeträchtlichen Anteil der medialen Aufmerksamkeit von den Massenmedien ab. Und es werden stetig mehr. Während vor zwei Jahren das Bloggen noch ein Hobby von Freaks und Enthusiasten war, beginnt heute jeder Normalsterbliche mit dem Bloggen, weil er den Freunden in der Heimat von seinem Auslandsaufenthalt berichten oder seine Lieblingskochrezepte teilen will.
Auf diese Weise entsteht keine direkte Konkurrenz für die FAZ oder für N-TV. Aber: Hier macht gerade auch Kleinvieh den sprichtwörtlichen Mist. Denn je mehr von diesen Kleinproduzenten es gibt, desto mehr Aufmerksamkeit erhalten sie in der Summe. Hinzu kommt: die einzelnen Angebote existieren nicht in Isolation. Ganz im Gegenteil achten Blogger und andere Web-Produzenten sehr genau aufeinander. So kann eine sensationelle Geschichte, die in einer Ecke an die Oberfläche gespült wird, das fragmentierte Web plötzlich zum lautstarken kollektiven Organ vereinen, das eine Krise mit enormer Lautstärke in breite Bevölkerungsschichten katapultiert.
Wie ist damit umzugehen? Die Antwort ist relativ einfach. Man muss diese neuen Gatekeeper ernst nehmen. Denn zusammen genommen erzeugen sie mehr Content, der auf Marken, Medien, Märkte Wirkung hat, als ein einzelner Redakteur, Werbefachmann oder PR-Profi jemals könnte. Vonnöten ist dafür zunächst eine entscheidende Kompetenz, die in den großen Medienhäusern eigentlich – zumindest unter Journalisten – weit verbreitet sein sollte: Neugier und die Bereitschaft zuzuhören. Der erste Schritt besteht darin, das ernst zu nehmen, was im Web passiert. Wer mit echtem Interesse darauf zugeht und zum Lernen bereit ist, kann begeisternde Dinge erfahren – über Streit(un)kulktur, Demokratie, Passion und Fachkompetenz in Winkeln, in denen man sie nie vermutet hätte. Wer aber mit verächtlicher Geste "Ist doch eh alles nur Mist" ausruft und sich wieder dem Fernseher zuwendet, der merkt gar nicht, dass der Nachbar nebenan beim Fernsehen zwar in ein ähnliches Gerät schaut, aber dabei längst diesen "Mist" aus dem Netz verfolgt. Denn der dort angebotene Content wird mittlerweile auch im Fernsehen angezeigt und ist für ihn hundert Mal relevanter als die neueste quotenoptimierte Game-Show, oder die nächste von risikoscheuen Kommittees weichgespülte Fernsehserie.
Was kommt danach? Nach dem Interesse und der Neugier ist die Dialogfähigkeit gefragt: Zunächst findet man heraus, wer sich da draußen für welche Themen stark macht, wer mit frischer Stimme frische Gedanken formuliert, wer eine wachsende Anzahl von Lesern, Zuschauern, Zuhörern mit Phantasie, Einfallsreichtum oder einfach nur dem täglichen Wahnsinn für sich begeistert. Und anschließend sollte man mit diesen Menschen ins Gespräch kommen. Denn für die meisten aktiven Produzenten 2.0 ist ihre Aktivität im Netz in allererster Linie genau das: eine Einladung zum Gespräch. Und Gespräch ist hier wörtlich gemeint – Rede und Gegenrede. Zuhören und Antworten.
Häufig wird der Fehler gemacht, dass nun Pressemeldungen verschickt werden, die nur auf taube Ohren stoßen oder beißende Häme nach sich ziehen. Aber es ist doch klar: wer Dialog erwartet und Gespräche führen will, der ist verärgert, wenn er eine Pressemeldung um die Ohren gehauen bekommt, die keinen Raum für echten Austausch vorsieht.
Und warum all diese Mühe um echten Dialog und Austausch? Ganz einfach: weil man die Produzenten 2.0 im Dialog und im ehrlichen Austausch für sich gewinnen kann. Man kann miteinander besprechen, in welcher Weise man künftig vielleicht gemeinsame Kreativität entfalten lässt, wie neue Ideen und neue Formate entstehen, und was in dieser neuen Medienwelt alles möglich ist.
Und genau an dieser Stelle kommen wir zur echten Herausforderung: je mehr Gatekeeper es gibt, desto mehr Dialoge dieser Art muss man führen. Welches Unternehmen und welches Medienhaus ist aber in der Lage, mit tausenden Leuten Dialoge zu führen? Wo doch eigentlich nur die Presseabteilung mit den Leuten reden darf? Wer seine Mitarbeiter zum echten Dialog befähigt und lizensiert, der beherrscht die relevante Kunst im Umgang mit der neuen Medienwelt und erarbeitet sich die Möglichkeit, einen echten Vorsprung für sich zu erarbeiten.
Wir bei trnd haben daraus ein neues Modell für das Marketing entwickelt. Wir verhandeln mit unseren tausenden Mitgliedern – jeder von ihnen ein Gatekeeper dieser neuen Art - im ständigen Dialog, wie man ein neues Produkt am besten bekannt machen kann. Und was im Konsumgütermarketing geht, das muss doch auch in anderen Bereichen der neuen Medienlandschaft funktionieren!
Daher mein Appell: interessieren Sie sich für Ihre neuen Gatekeeper, hören Sie Ihnen zu und beginnen Sie einen ernstgemeinten Dialog mit Ihnen. Der Rest entsteht dann von ganz allein.
[Ich habe diesen Text auf Einladung von Prof. Dr. Lothar Rolke an der FH Mainz geschrieben, für eine Studie über die Entwicklung der Mediengesellschaft. Er basiert zum Teil auf diesem Text von mir aus dem April letzten Jahres.]
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