Angeregt durch die Debatte um die Forschung von Watts und Dodds (2007, hier der deutlich journalistische FastCompany-Artikel dazu), wollte ich nochmal ein paar Dinge zum Thema "Meinungsführer" darstellen.
Seit rund 50 Jahren wird das Meinungsführerkonzept als eine Art sagenumwobener Mythos im Marketing behandelt. Der Grund liegt sicher darin, dass es einerseits einleuchtend wirkt - jeder kennt das aus dem eigenen Bekanntenkreis, dass manche Menschen sehr überzeugend oder kenntnisreich wirken und mehr Einfluss als andere zu haben scheinen. Andererseits ist aus Marketingsicht extrem anziehend, geradezu magisch: anstatt Millionen in Werbung zu ballern, gehen wir quasi chirurgisch vor und berühren nur die wenigen wichtigen Punkte, an denen sich dann eine Epidemie entzündet, die sich anschließend global ausbreitet. (Und das ist sicher auch der Grund, warum "Tipping Point" von Malcolm Gladwell auf solche Resonanz gestoßen ist.)
Soweit, so gut. Nur leider werden dabei zu oft Ursache und Wirkung durcheinander geworfen und es entstehen viele Missverständnisse. Daher würde ich gern zwei Thesen aufstellen und kurz erläutern. Die Thesen sind: Erstens, Meinungsführer sind extrem wichtig. Zweitens, Meinungsführer sind ziemlich unwichtig. Und interessanterweise sind beide richtig.
Dafür sollte ich allerdings kurz definieren, was ich unter dem Begriff Meinungsführer verstehe. Wenn man die einschlägige Wissenschaftsliteratur liest (und das habe ich in den vergangenen Monaten... Jahren getan), findet man eigentlich zwei Grundtypen: erstens, den 'Opinion Leader'. Dieser ist in einem oder in mehreren aneinander angrenzenden Themenbereichen sehr kenntnisreich, und andere achten auf seine Meinung zu diesem Thema. Er ist - in Bezug auf seinen Innovationsgrad - seinen Mitmenschen nicht allzu weit voraus, denn wäre er das, würden sie ihn als Spinner ablehnen und er hätte keine Meinungsführerrolle mehr. Stattdessen ist er ihnen recht ähnlich und zudem gut vernetzt, also kein sozialer Außenseiter.
Zweitens, der 'Market Maven'. Dieser Typ wurde erst Mitte der 80er Jahre zum ersten Mal beschrieben. Es handelt sich dabei nicht um einen Spezialisten auf einem bestimmten Gebiet, sondern um Menschen (häufig weiblich), die sich allgemein für den Konsumprozess und für das Shoppen interessieren, Anzeigenblätter lesen und wissen, wo es grade die besten Deals und Schnäppchen gibt. Es sind also weniger Leute, die zu einem bestimmten Thema sehr kenntnisreich Auskunft geben können, sondern eher Menschen, die ihren Freunden und Bekannten aktuelle Hinweise zu guten Deals geben.
Bei meinen Überlegungen soll es eher um den ersten Typ gehen. Dazu gilt das, was ich hier schreibe, für den Business-to-Consumer-Markt. Im B2B-Bereich sind einige Dinge anders. Nun zu meinen Thesen:
1. Meinungsführer sind extrem wichtig. Wenn wir von der Prämisse ausgehen, dass Mundpropaganda unter anderem dafür dient, Risiko und Komplexität zu reduzieren, dann ist die Bedeutung von Meinungsführern sehr hoch. Denn sie sind die Anlaufstellen, die wir nutzen, um uns Meinungen und Einschätzungen zu Produkten und zu Dienstleistungen zu holen, weil wir dadurch unseren eigenen Recherche-Aufwand sehr stark minimieren können. Außerdem können wir dadurch Risiko minimieren - denn wenn jemand anders von Erfahrungen mit einer Dienstleistung weiß (die sich oft nur schlecht ohne Ausprobieren sammeln lassen), dann brauchen wir das Risiko nicht mehr selbst einzugehen. Jeder, der eine teure oder riskante Anschaffung tätigen will, ist extrem dankbar für eine unabhängige Stimme, die dazu eine hoffentlich qualifizierte Meinung abgeben kann.
Mittlerweile findet dieses Informationseinholen verstärkt über Google statt. Wir suchen nach den Produktnamen und Themen und stoßen auf Internetseiten, die hoch verlinkt sind und daher (hoffentlich) Autorität haben. Wir lesen uns kurz ein und können auf diese Weise ein paar interessante unabhängige (?) Eindrücke über das jeweilige Produkt sammeln. Oder aber es gibt Online-Meinungsführer, die wir aus dem Web kennen, weil wir ihre Blogs lesen (und dann manchmal auch "im realen Leben" kennenlernen). Wir lesen ihre Meinungen zu bestimmten Produkten, oder können sie per E-Mail fragen.
Also: weniges ist so nützlich für die Kaufentscheidung wie ein vertrauensvoller Meinungsführer, der in Reichweite ist.
2. Meinungsführer sind ziemlich unwichtig. Die meisten viralen Marketingaktionen erhoffen sich, dass sich eine Information oder Werbung oder Meldung möglichst schnell per informeller Kommunikation durch die Zielgruppe verbreitet. Und genau an dieser Stelle setzen die meisten Marketers auf die Influentials. Sie mailen Blogger an (und holen sich dabei eine blutige Nase...), versuchen die relevanten Gesprächspartner zu identifizieren, die als Meinungsführer funktionieren, geben sich alle Mühe, die richtigen und wichtigen Leute zu finden. Erstmal ist das nicht einfach. Meinungsführer zu identifizieren und anzusprechen ist alles andere als einfach.
Zweitens aber ein noch wichtigeres Problem: so entscheidend wie Meinungsführer für die "Nachfrager-Mundpropaganda" sind, so wenig wichtig sind sie für die "Sender-Mundpropaganda". Denn genau darum geht es ja - beim viralen Marketing sollen Botschaften ungefragt von Freunden an ihre Bekannten weitergegeben werden. Keiner bittet um einen viralen Werbefilm oder um eine andere Markenbotschaft, sondern der Marketer muss sich mühen, seine Information so aufzubereiten, dass die Leute von sich aus die Botschaft weitergeben wollen.
Rein psychologisch gesehen werden sich aber grade die Meinungsführer hier eher zurückhalten, aus einem einfachen Grund: da sie sich ihre Rolle als Meinungsführer erarbeitet haben und darauf auch soziales Prestige basiert, müssen sie sehr darauf achten, dass dieser Ruf nicht verloren geht. Und wenn sie einfach kritiklos Botschaften eines Unternehmens weitergeben, könnte ja der Eindruck entstehen, dass da jemand "gekauft" worden oder einfach nicht mehr kritisch genug ist (vermutlich der Grund, warum beispielsweise beim Werbeblogger immer so viel kritisiert und nur wenig richtig gut gefunden wird... ;-). Allein aus psychologischer Sicht sind die Meinungsführer also erstmal nicht diejenigen, die enthusiastisch die Firmennachrichten multiplizieren wollen.
Hinzu kommt das, was Watts & Dodds mathematisch modelliert haben: dass nämlich die Meinungsführer, trotz ihrer stärkeren Vernetztheit in den sozialen Netzen, netzwerkmäßig überhaupt nicht den großen Hebel haben, um wirklich massenhafte Verbreitung zu erzeugen. Sie sind zwar effektiver für das Verbreiten von Botschaften, aber nicht sooo viel effektiver als das, was ein Normalsterblicher leisten kann. Und da es von ihnen weniger gibt, ist mengenmäßig eine große Gruppe von Normalmenschen letztlich deutlich wichtiger. Und diese kann man - wieder psychologisch gesprochen - auch letztlich leichter für das eigene Projekt begeistern. Denn Begeisterung auf breiter Front braucht man, um vernünftige Effekte zu erzielen.
Was bedeutet das nun für das Marketing? Mal abgesehen davon, dass ich das hier natürlich arg verkürzt dargestellt habe, gibt es für mich zweierlei Schlussfolgerungen: wer Produkte hat, für die "Nachfrager-Mundpropaganda" wichtig ist, sollte versuchen, mit wichtigen Meinungsführern ins Gespräch zu kommen. Nicht, weil das Mundpropaganda-Lawinen auslöst. Sondern weil dann die richtigen Beziehungen am richtigen Ort platziert sind, wenn Leute nach Meinungen suchen und fragen. Genau deshalb setzen wir bei trnd auch auf viel und gut platzierten "Consumer Generated Content", wenn wir beispielsweise für Opel arbeiten. Zweitens, wer Mundpropaganda-Lawinen auslösen will, muss von Beginn an auf Masse setzen. Virale Filme brauchen letztlich breites Seeding, damit sie überhaupt wahrgenommen werden. Und für WOM-Kampagnen arbeiten wir eben lieber mit 5000 Leuten als mit 500.
Oder, in einem Satz: nur, weil Meinungsführer auf Nachfrage hin sehr relevante und wichtige Mundpropaganda abgeben können, die auf den einzelnen dann sehr stark wirkt, heißt das noch lange nicht, dass sie auch für die Verbreitung Lawinen von Mundpropaganda auslösen können, welche die Nachfrage nach oben schnellen lässt (oder einem Film zu viraler Verbreitung verhilft).
Nachtrag 20.02.2009: Diese Grafik veranschaulicht das Thema noch ein wenig besser.