Manch einer mag sich erinnern – vor einiger Zeit habe ich hier einen ersten Eintrag zum Thema "Marketing 2012" geschrieben. Ich habe darin versucht, ein Szenario aufzumalen, mit dem sich das Marketing künftig auseinandersetzen muss. Die Idee war, in einem zweiten Teil meine Lösungsvorschläge anzubieten. Der Grundgedanke dieser Lösung: das Marketing muss künftig den echten interaktiven Dialog mit seinen Zielgruppen verinnerlichen. Jeder einzelne Mitarbeiter muss zu einem Teil diese Dialogaufgabe mit übernehmen, weil letztlich nur auf diese Weise genügend Leute zur Verfügung stehen, um mit den richtigen und mit den wichtigen Kunden einen intensiven Austausch zu pflegen, der diese dann wiederum zu Insidern, Kennern, VIPs, Vertrauten und Vertrauenspersonen der Marke macht. Damit können sie in der Folge nach draußen als Meinungsführer wiederum Teile der Kommunikation gegenüber allen anderen übernehmen. Und so wird Dialog skalierbar, als sich fortpflanzende Welle von Gesprächen (Cluetrain). Daraus entsteht natürlich direkt eine Herausforderung: das Marketing der Zukunft fängt im Unternehmen an – beim Umgang mit den eigenen Mitarbeitern. Denn nur dann, wenn die Mitarbeiter für das Unternehmen brennen, begeistert sind, involviert, angesteckt von Vision und Mission der Firma, können sie diese Kommunikationsaufgabe derart eigenverantwortlich wahrnehmen, ohne dass ihnen ständig jemand auf die Finger gucken, sie korrigieren, ermahnen, maßregeln muss. Damit die dezentrale Kommunikation jedes einzelnen Mitarbeiters in der Summe letztlich die Markenkommunikation der Marke unterstützt oder gar ausmacht.
Soweit die Idee. Das wollte ich – etwas mehr ausgeschmückt – in meinem zweiten Eintrag zum Thema beschreiben. Dann kam aber die gestrige Konferenz Werbung 2.0 in Wiesbaden dazwischen, und mit ihr der Vortrag von Frank Roebers, dem CEO der Synaxon AG. Und anstelle nun mein Szenario 2012 auszuschmücken, erzähle ich folgend einfach mal, wie bei Synaxon bereits heute mit interner und externer Kommunikation umgegangen wird. Denn dort wird bereits jetzt schon all das aufs Gleis gebracht, was ich mehr oder weniger theoretisch beschrieben hätte. Und da die funktionierende Praxis dann doch manchmal besser ist als eine schön erdachte Theorie, lasse ich das einfach mit meinem zweiten Teil des Szenarios. Denn das Marketing 2012 befindet sich bereits in der Entstehung. Vielleicht nicht unbedingt dort, wo man es vermutet hätte – bei den üblichen Web 2.0-Verdächtigen, die überall lautstark rumtönen. Sondern in Bielefeld, bei einer Firma, die Franchise-Konzepte für den Vertrieb von PCs an Firmen- und Endkunden organisiert und damit sehr erfolgreich ist.
Als Cluetrain-Manifesto-Fan hörte Frank im Jahr 2006 einen Vortrag von Jimmy Wales. Und ab da begeisterte er sich für die Idee, das Wiki-Konzept für die interne Kommunikation im Unternehmen zu nutzen. Anstatt dafür aber Projektgruppen und Stabsstellen einzurichten und Pläne aufstellen und verwerfen zu lassen, ging er eher unternehmerisch ran und machte das einfach. In der Folge ging im Oktober 2006 ein internes Wiki an den Start, das auf zwei vermutlich revolutionären Prinzipien basiert: Erstens, es gibt keine Wissensbarrieren zwischen den Abteilungen, das Wiki bietet den vollumfänglichen Datenumfang an, mit dem im Unternehmen gearbeitet wird. Mit anderen Worten: die Finanzer können sehen, was die Marketingleute machen, die Vertriebler sehen, was der Einkauf grade veranstaltet, der Praktikant sieht, woran der Chef grade tippt - alles ist offen, alles ist transparent. Zweitens, und das ist aus meiner Sicht das wirklich Revolutionäre: es gibt keine Nutzerhierarchien. Alle Dokumente und alle Regeln sind für alle (!!) zum Editieren freigegeben. Wieder mit anderen Worten, um es ganz klar zu sagen: jeder im Unternehmen kann theoretisch am Finanzplan ändern, Marketingdokumente editieren, am Mission Statement basteln, jedes Dokument im Wiki verändern. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: alle internen Dokumente sind für jeden frei editierbar (natürlich mit Historie, zum Nachverfolgen). Frank sagte, dass seiner Kenntnis nach kein Unternehmen so radikal mit Transparenz und Involvement der Mitarbeiter umgeht. Ich kann mir gut vorstellen, dass er recht hat.
Über mehrere Tage wurden dann nach und nach zuerst die Vorstandskollegen und dann die Mitarbeiter mit dieser neuen Form der internen Kommunikation vertraut gemacht. Wichtige Vorkämpfer wurden – kaum erstaunlich – die jüngeren Leute im Unternehmen, die bereits mit dem Web 2.0 Erfahrungen gesammelt hatten. Die erste Bewährungsprobe kam auch schon recht bald. Ein vom Vorstand hartnäckig verfochtener aber bei den Mitarbern unbeliebter Satz im Mission Statement wurde von einem Mitarbeiter gelöscht. Jetzt galt es Haltung zu zeigen. Gilt die Ansage wirklich, dass alles für alle frei ist, dass keiner gleicher ist als die anderen? Frank: "Das war hart." Aber die Veränderung wurde beibehalten. So wie alle anderen in der Folge gemachten Änderungen auch.
Denn das Erstaunliche – oder vielleicht ist es gar nicht so erstaunlich, wenn man es recht bedenkt: Seit dem Start mit dem Projekt hat es bis heute ca. 65.000 Dokumentänderungen gegeben. Keine einzige musste bislang von einem anderen Bearbeiter (Manager? Vorgesetzten? Führungskraft?) zurückgesetzt werden. Die Leute nehmen also diese neue enorme Freiheit und Transparenz außerordentlich ernst. In Franks Worten: "Die Leute denken sehr genau darüber nach, ob sie auf den Link 'Edit' oder auf den Link 'Diskussion' klicken." Und heute ist das Wiki Kern und Hauptbestandteil der Arbeit im Unternehmen und erfreut sich stetig steigender Akzeptanz und Nutzung.
Natürlich blieb es nicht bei dem internen Wiki. Bliebe es dabei, wäre die Sache für mich nur mäßig interessant. Denn das hier ist ja ein Marketingblog. Als nächstes wurde ein weiteres Wiki für die Franchise-Partner eingerichtet. Mit ähnlichem Ansatz, mit ähnlichem Erfolg.
Danach war das Content-Management-System der Internetseite dran. Schwerfällig war's und wurde von nur einer Person beherrscht, Änderungen dauerten lange und waren selten aktuell. Also wurde auf ein neues Open-Source-System umgesattelt. Und von dem Moment an kann/konnte jeder Mitarbeiter sich als Internetredakteur betätigen – das System steht allen offen, wer auf der Internetseite etwas verändern will, der kann. Frank dazu lakonisch in seiner Präsentation: "Das ist für ein börsennotiertes Unternehmen natürlich nicht immer ganz unproblematisch." Aber damit sind wir eben schon sehr nah dran an meinem Szenario: Die Mitarbeiter erleben Vertrauen und Partnerschaft durch Offenheit und Kollaboration. Diesen Umgang wissen sie zu schätzen. Und zahlen das zurück, indem sie mit der Kommunikation nach außen verantwortlich umgehen. Und also beispielsweise keinen Unsinn auf der Internetseite anstellen.
Wer nicht versteht, wie solch ein Umgang mit der Kommunikation ein Unternehmen dynamisieren und für neue Herausforderungen fit machen kann, der wird im Marketing 2012 Probleme haben.
Aber natürlich war hier noch nicht Schluss. Denn jetzt kommt ein weiterer spannender Punkt. Die Endkunden sollen ebenfalls Teil der Konversation werden, ganz nach Cluetrain. Wie geht das nun wiederum? Bislang auf zweierlei Weise: Zum einen mit Snippr.de. Die Synaxon AG hat sich auf den Verkauf von PCs und Hardware spezialisiert. Dazu gibt es immer wieder Fragen und Probleme. Auf Snippr.de kann man diese als Nutzer eingeben, und innerhalb weniger Minuten werden Antworten und Empfehlungen gepostet. Von wem? Zunächst mal von den Mitarbeitern im Handel. Das Unternehmen zahlt für den Verkauf im Direktvertrieb Provisionen an den stationären Handel in der entsprechenden Region, in die das jeweilige Produkt verkauft wird. Damit sind also die stationären Händler auch an Online-Umsätzen beteiligt, und deswegen nicht dagegen, sondern daran interessiert. Wenn also die Mitarbeiter in den Läden mal nichts zu tun haben, können sie auf Snippr.de Fragen beantworten. Außerdem kann aber auch jeder andere Webnutzer mitmachen, der sich mit PCs auskennt und meint, Fragen beantworten zu können. Und wenn durch solch eine Beratung auch ein Verkauf entsteht, bekommt dieser jeweilige Fremdberater – egal wer er ist und wo er wohnt – auch eine Provision, in Höhe von 1%. Das mag nicht nach viel erscheinen. Aber wer in 5 Minuten einen Tipp zu einem Drucker abgibt und dafür anschließend 5 EUR kassiert, der mag das interessant finden. Snippr läuft seit einigen Wochen im offenen Test, funktioniert stabil und hat ca. 500 eingetragene Nutzer.
Und als zweites gibt es jetzt seit wenigen Tagen einen Synaxon-Blog. Da wird noch vorsichtig experimentiert. Alexander Kahl, der diese Projekte im Online-Bereich bei Synaxon mit verantwortet, sagt dazu: "Wir tasten uns da vorsichtig ran, wir wollen ja nicht, dass jemand sagt, die Synaxon AG fällt unangenehm mit Trackback-Spam auf." Und wer darf bloggen? Klar, jeder im Unternehmen, der will.
Ich muss sagen, dass mit eine dermaßen konsequente Ausrichtung eines Unternehmens auf offene Kommunikation nach innen wie nach außen noch nirgendwo untergekommen ist. Natürlich kann ich mich täuschen, aber das erscheint mir einigermaßen einmalig, und ich bin gespannt, wie es bei Synaxon künftig weitergeht. Sicherlich gibt es jetzt potenziell unzählige Bedenkenträger, die hier erklären werden, dass das so ja alles auf andere Unternehmen gar nicht anwendbar ist, dass es sich hier aber um eine besondere Firma und um ein besonderes Geschäft handeln muss. Klar. Ausreden gibt's immer dafür, seinen Laden nicht im Griff zu haben. Aber ob die 2012 noch ziehen? Was ich anerkennen muss: ich kenne bislang nur die Sicht von zwei Leuten auf das Thema und weiß nicht, wie das von anderen im Haus und außerhalb bewertet wird. Außerdem kannte ich das Unternehmen bis dahin nicht, weiß also wenig über die Kunden und die Kundenzufriedenheit. Insofern ist an dieser Stelle ein gewisses Maß an Vorsicht natürlich noch von Nöten.
Stellt sich vielleicht noch die Frage, wer in diesem Szenario mit der vielleicht größten Herausforderung zu kämpfen hat? Der Chef: "Man kommt selber kaum noch mit. Das Unternehmen ist dermaßen dynamisiert, dass man echt aufpassen muss, dass es sich nicht unter dem eigenen Hintern wegbewegt."
Wenn das nicht eine Handlungsanweisung dafür ist, wie wir in Deutschland mit Innovation und Wirtschaftsdynamik umgehen sollten, um im globalen Wettbewerb zu bestehen, dann weiß ich es auch nicht.
Marketing 2012 findet bereits statt. In Bielefeld.