Vor einer Weile hatte ich schon mal von dem Buch The Cult of the Amateur gehört. Andrew Keen stellt darin die These auf, dass das Web 2.0 Kultur und Wirtschaft bedroht – der Untertitel des Buches: "How Today's Internet is Killing Our Culture and Assaulting Our Economy". Eigentlich glaube ich, dass es sinnvoll und richtig ist, dass das Web und damit mediale Macht demokratischer werden. Andererseits sollte man bereit sein, den eigenen Standpunkt zu überprüfen. Ich halte es nicht für sinnvoll, wenn die eigene Argumentation allein durch Standhaftigkeit ... Sturheit? gekennzeichnet ist. Man sollte bereit sein, seine Meinung auch zu ändern. Genau wie alle anderen kann ich nicht absehen, was diese Entwicklung alles nach sich ziehen wird. Also habe ich das Buch gekauft, weil ich vor allem neugierig darauf war, welche Argumente gegen die Demokratisierung des Web sprechen.
Leider ist das Buch eine große Enttäuschung. Bereits auf den ersten Seiten schlägt der Autor Andrew Keen einen derart weinerlichen Ton an und beklagt in derart polemisch-generalisierender Weise das Web 2.0, dass einem die Lust am Lesen vergeht. Dies liegt nicht daran, dass ich nicht offen bin für andere Argumente. Ganz im Gegenteil war ich ja neugierig auf einen anderen Standpunkt. Aber wenn man keinen anderen Standpunkt bekommt, sondern nur Polemik und unzulässige Verallgemeinerungen, dann ist das enttäuschend.
Zwei Beispiele. Auf Seite 6 heißt es (folgend eigene Übersetzungen):
"Viel verstörender als der Umstand, dass wir zu Millionen bereit sind, uns jeden Tag solchen Unsinn [Anm.: alberne Videos auf YouTube] anzusehen, ist die Tatsache, dass manche Websites uns zum Affen machen, ohne dass wir es überhaupt mitbekommen. Indem wir bei Google Suchwörter eingeben, schaffen wir etwas, das sich 'kollektive Intelligenz' nennt, die Summe der Weisheit aller Google-Nutzer. Die Logik der Google-Suchmaschine – Techniker nennen das ihren Algorhythmus – spiegelt die 'Weisheit' der Menge wider. Mit anderen Worten, je mehr Leute auf einen Link klicken, der als Ergebnis einer Suche angezeigt wird, desto wahrscheinlicher ist, dass dieser Link in künftigen Suchergebnissen wieder auftaucht. Die Suchmaschine ist eine Ansammlung der 90 Millionen Fragen, die wir gemeinsam Google jeden Tag stellen; mit anderen Worten erzählt es uns allein das, was wir schon längst wissen."
So viel Unsinn auf so wenig Raum. Man muss Google nicht mögen. Aber es steht wohl außer Frage, dass es die Suchmaschine in den vergangenen Jahren geschafft hat, besser als die meisten anderen Anbieter die Suchanfragen ihrer Millionen... Milliarden? Nutzer auf der ganzen Welt zu beantworten. Allein deswegen hat sie ihren Siegeszug gemacht. Die Verkürzung, dass uns Google nur das erzählen würde, was wir selbst längst wissen, ist geradezu abenteuerlich. Zum einen können wir natürlich nur das Wissen im Web finden, das dort schon mal von anderen Menschen hinterlegt worden ist. Zum anderen sorgt der oben beschriebene Algorhythmus ganz und gar nicht dafür, dass wir nur das erfahren, was wir schon wissen. Es sorgt dafür, dass wir das finden, was andere auch gefunden haben. Drittens sind, meinem knappen Wissen Google betreffend entsprechend, nicht die Klicks, sondern vor allem die Verlinkungen zwischen Sites besonders wichtig für die Suchergebnisse. Diese und andere Techniken, die dafür sorgen, dass wir uns dank Google gegenseitig bei unserer Suche im Netz unterstützen, hat dafür gesorgt, dass Websuche zu einer erstaunlich effizienten Sache geworden ist. Mir ist also schleierhaft, warum der Autor postulieren kann, Google mache uns zum Affen. Zumal ich mir kaum vorstellen, dass er selbst ohne Google auskommt. Oder ohne eine andere Suchmaschine, die nach demselben Muster funktioniert.
Ein anderes Beispiel: Keens Lieblingsfeind ist die Wikipedia. Seine Attacke gegen die Wikipedia reitet er unter anderem, indem er Jimmy Wales, den Gründer der Wikipedia, zwischen den Zeilen aufgrund seiner Computerspiel- und bäuerlichen Herkunft schlecht zu machen versucht. Aber dabei belässt er es nicht – er beschreibt die Wikipedia als den Totengräber aller Institutionen, das Dilettanten-Schlachtschiff, dass die Encyclopaedia Britannica und letztlich alle Institutionen des Wissens und der Weisheit zu Schanden schießen wird (S. 44-45):
"Indem sie den Experten unterminiert, zielt die Allgegenwärtigkeit des kostenlosen Nutzer-erzeugten Inhalts mitten ins Herz unserer professionellen Institutionen. Jimmy Wales' Wikipedia, mit ihren Millionen Amateurherausgebern und unzuverlässigem Inhalt, liegt auf Platz 17 der meistbesuchten Seiten im Internet; Brittanica.com, mit ihren 100 Nobelpreisgewinnern und 4000 Experten, liegt auf Platz 5128. (...) Die 232 Jahre alte Britannica musste 2001 und 2002 eine Serie von schmerzhaften Entlassungen durchstehen, die die Anzahl ihrer 300 Mitarbeiter in den USA fast halbiert hat; durch die Ankunft der Wikipedia werden zweifelsohne mehr Entlassung zu erwarten sein."
Es ist sicherlich beklagenswert, dass die Britannica Mitarbeiter entlassen musste. Aber 2001 und 2002 waren Jahre, in denen – dank weltweit schwieriger Wirtschaftslage – weniger Leute das Geld hatten oder ausgeben wollten, sich teure Bände einer luxuriösen Enzyklopädie ins Regal zu stellen. Vielleicht gab es auch Mismanagement? Ineffiziente Geschäftsführung? Die Gründe dafür, warum das US-amerikanische Team der Britannica verkleinert werden musste, dürften vielfältig sein. Es dem User-Generated Content in die Schuhe zu schieben, ist gewagt. Zumal Keen ja erklärt, dass die Effekte der Wikipedia erst noch zu spüren sein werden. Vielleicht wirken diese ja anders herum: wer sich mit der Wikipedia anfreundet, möchte vielleicht irgendwann auch eine physikalische Enzyklopädie besitzen, die man aus dem Regal nehmen kann? Was wäre, wenn die Wikipedia der EB neue Kunden verschafft? Ich sage nicht, dass das passieren muss, aber meine Annahme ist so gut wie seine. Was die Popularität der Websites betrifft: die Wikipedia gibt ihr Wissen preis, Britannica.com nicht – man muss dort Geld bezahlen, um Inhalte abrufen zu können! Es ist der Vergleich von Äpfel und Birnen, den Keen hier anstellt.
Besonders störend ist Keens Neigung, den 'Experten' allein den Status des Wissenden zuzusprechen, währen die Nutzer, Normalos, Durchschnittsmenschen... staunend davor stehen und Wissen nur abholen dürfen (S. 45-46):
"Heutzutage sind Herausgeber, Techniker und kulturelle Wächter – die Experten in einer breiten Spanne von Gebieten – notwendig, um uns dabei zu helfen herauszufinden, was wichtig ist und was nicht, was glaubwürdig ist und was nicht verlässlich, was verdient, dass wir unsere Zeit damit verbringen, im Gegensatz zum Rauschen, das verlässlich ignoriert werden kann. (...) Denn der traurige Fakt ist, dass Dr. William Connolly [Anm.: ein Klimaforscher, der vorher genannt wurde] die schlecht informierten Tiraden von Verrückten (...) von der Weisheit von Experten unterscheiden kann, der durchschnittliche Internetnutzer dies jedoch nicht kann. Die meisten von uns nehmen an, dass wir der Information, die wir aufnehmen, vertrauen können."
Diese Auffassung – dass eine Elite der Wissenden die richtigen Antworten kennt, denen wir, als Horde von Nichtwissenden, folgen sollte – durchzieht das Buch. Und ist höchst zweifelhaft: Wissenschaftler manipulieren Ergebnisse. Veröffentlichungen und Expertenmeinungen sind immer wieder von finanziellen Interessen motiviert und verdreht. Journalisten können faul sein und manchmal schlecht recherchierten Unsinn schreiben. All das scheint der Autor entweder nicht zu wissen oder auszublenden. Auf der anderen Seite: Es gibt Amateure, die auf manchen Gebieten mehr wissen als manche Profis. Es gibt inoffizielle Autoritäten und Koryphäen. Es gibt Weisheit und Talent an Stellen, an denen man weder das eine noch das andere je vermutet hätte. Keen blendet das aus. Seine Autoritätshörigkeit ist bemerkenswert.
Natürlich hat er insoweit Recht, als man nicht jedem Eintrag in der Wikipedia oder in einem Blog trauen darf. Aber gerade deswegen erlernen die Nutzer neue Medienkompetenz und lernen, dass es unterschiedliche Arten von Quellen im Netz gibt. Und verstehen die Nutzer das nicht, sollte man sich darum bemühen, dass sie es doch tun, anstatt zu postulieren, der Content von Nutzern sei der Untergang des Abendlandes. Denn eine kritische Haltung gegenüber Thesen, Meinungen und Empfehlungen jeder Art und aus jeder Quelle ist letztlich heute, in einer post-positivistischen Welt, erste Bürgerpflicht für jeden denkenden Menschen.
Keen missachtet, dass die vielfältigen Inhalte, die heute im Netz entstehen, nicht Ersatz, Ablösung und Ende von klassischem Journalismus, Kulturschaffen und Wissenschaft sind. Sie sind deren Ergänzung und Korrektiv. Deren Kommentar und Gegenstimme. Die Reaktion einer medial erstarkten Bevölkerung. Der Ausdruck von Meinungsfreiheit, wie von den meisten freiheitlichen Verfassungen garantiert. In seinem blinden Anhängen an Autoritäten und Vaterfiguren vergisst er, dass es die Aufgabe jedes Bürgers ist, kritisch und aufmerksam zu beobachten, was die Medien kommunizieren, was die Künstler deklamieren, was die Wissenschaftler behaupten.
Bei seiner Argumentation vermischt er zudem auf völlig unzulässige Weise verschiedene Entwicklungen: Die möglicherweise zerstörerischen Folgen von Internet-Piraterie, Online-Pornografie oder krankhafte Abhängigkeit von Online-Gambling werden auf Dutzenden von Seiten und mit viel Hingabe ausgebreitet. Der Autor ist zweifelsohne ein Internethasser, denn er konzentriert sich fast allein – ein Feigenblattkapitel am Ende ist die Ausnahme – auf die schlechten Seiten des Web. Derart tendenziöse Darstellung bringt erstens keinen Erkenntnisgewinn, und zweitens steht sie in keinem Zusammenhang mit dem eigentlichen Thema des Buches: den Beiträgen von Amateuren auf Blogs, YouTube & Co. In seinen schließenden Zeilen (S. 204-205) erklärt Keen schließlich, dass das Web 2.0 nicht den Medienmainstream ersetzen darf, damit auch künftig geniale Kreative wie Mozart, Van Gogh und Hitchcock von ihrer Arbeit leben können. Soweit ich weiß, konnte zumindst Van Gogh nicht besonders gut von seiner Arbeit leben, hat also bemerkenswerte Kulturgüter geschaffen, ohne auf reiche Entlohnung hoffen zu können.
Noch einmal: ich habe nichts dagegen, wenn man gute Argumente sammelt, die beleuchten, warum die Ausbreitung von User Generated Content im Netz auch schädliche Effekte nach sich zieht. Ganz im Gegenteil würde ich mir eine möglichst sachliche Auseinandersetzung dazu wünschen, denn wir sind alle darauf angewiesen zu verstehen, was derzeit medial geschieht. Da sind kritische Gegenstimmen mehr als notwendig. Diese bietet Keen jedoch ganz und gar nicht. Indem er nur seine eigene diffuse Abneigung in schlecht durchdachte Polemik gießt, ist er schlicht unredlich. Und das hilft der Diskussion um die moderne Medienwelt so wenig wie ein schlecht geschriebener Wikipedia-Eintrag.