(Das folgende ist ein Diskussionsanregung und ein persönliches Gedankenspiel. In Teil 1 beschreibe ich das Szenario, um in Teil 2 Gedanken zu einem möglichen Umgang damit zu formulieren. Kommentare an dieser Stelle wären natürlich spannend, denn die kann ich dann in Teil 2 verwenden.)
Die eine Seite der Medaille: Der Konsument hat volle Zugangskontrolle
Die breite Masse der Kunden... Nutzer... Menschen! hat die digitale Medienwelt mit all ihren Kontrollmöglichkeiten mittlerweile für sich entdeckt und nutzbar gemacht. Was Mitte des ersten Jahrzehnts im 21. Jahrhunder von Geeks, Bloggern und Fans des 2005 ausgerufenen „Web 2.0“ als Beginn einer umwälzenden Medienrevolution gefeiert wurde, ist längst alltägliche Realität von Millionen Menschen. Das Fernsehen erreicht seine Zuschauer fast ausschließlich entsprechend individueller Bedürfnisse. 'Live' nur dann, wenn ein Ereignis dies erfordert, sonst on-demand bzw. mittels Download, wobei die Angebote gemäß individueller Präferenzen automatisch auf persönliche web-basierte Medienfestplatten geladen und an die unterschiedlichen Endgeräte verteilt werden. Ganz gleich ob mobil oder stationär, im Auto, Büro oder Wohnzimmer. Zeitungen sind Online-Angebote, die per RSS-Feed aus ganz unterschiedlichen Nachrichtenangeboten bedarfsgerecht zusammengesetzt werden und je nach Aktualität im Newsreader landen, der wiederum nach Voreinstellung die ausführlicheren Dossiers ins zentrale Archiv speichert, die kurzen aktuellen Meldungen zu relevanten Themen dagegen per Push auf mobile Geräte schiebt. Die Papierversion der Zeitung entsteht am eigenen Drucker, in Form eines PDFs, das man sich selbst ausdrucken, am Frühstückstisch lesen und dort auch zerknicken, beschriften, zerknüllen und wegwerfen kann – was mit den digitalen Zeitungen auf papierartigem Bildschirm weiterhin schwierig bleibt.
Während das halb-automatisierte Filtern von Information und Nachrichten auf diese Weise natürlicher Bestandteil des modernen Medienkonsums wird, tritt noch eine weitere Funktion hinzu: wer das Filtern für sich selbst begonnen hat, der filtert schnell auch für andere. Wenn ich ein spannendes Podcast-Angebot entdeckt habe, dann möchte ich es auch meinen Freunden empfehlen können. Wenn ich einen bemerkenswerten Text gefunden habe, dann möchte ich auch die Meinung anderer dazu erfahren. Und das bringt uns direkt zur zweiten Seite der Medaille.
Die andere Seite: Das Read-Write-Web erfüllt seine Bestimmung
Als Tim Berners-Lee und Kollegen mit dem World Wide Web ein Instrument für Austausch und Publikation erdachten, nannten sie es auch das „Read-Write-Web“. Mit anderen Worten: Lesen, Ansehen, Klicken sollte einher gehen mit Schreiben, Verlinken, Veröffentlichen. Es war gedacht als eine Plattform für den (akademischen) Austausch auf Augenhöhe, für einen Austausch, der in kollaborativer Vernetzung einzelnen Individuen eine potenziell globale Reichweite verschafft – ohne Druckerpresse, Sendestation, Verlagshaus. Nach einigen Irrungen, in denen dieser Umstand teilweise vergessen oder ignoriert wurde, erinnerte die bunte Web 2.0-Phase die Internetgemeinde wieder daran und setzte durch, dass auch ein einzelner Blogger globale Schlagzeilen machen kann. Schlagzeilen waren in diesem Fall nicht mehr auf den Deckblättern der Tageszeitungen zu finden, sondern auf den Ergebnisseiten von Google, der schon damals dominierenden Informationsaggregationsmaschine. So können die Nutzer nun zu allem und jedem ihren eigenen Standpunkt artikulieren, mag er noch so banal oder brilliant sein. Sie können selber filtern, bearbeiten, verändern, sortieren und so zum Mikro-, Mini- oder Maxi-Gatekeeper und -Publizisten werden. Und das, wo immer sie sind. Denn das Browser-gestützte Web war nur der Anfang.
Findige Medien-Start-Ups verlängerten das partizipative Networking und Publizieren schließlich auch auf andere Endgeräte, die sukzessive alle nach und nach auf verschiedenen Wegen miteinander vernetzt, verwoben, verbunden wurden. Auf diese Weise wurde die mediale Produktion nicht nur an jedem Ort möglich, sie wurde auch immer weiter demokratisiert. Denn mit einem Handy ein Video drehen und es kurzerhand der vernetzten Weltgemeinde zur Verfügung stellen, konnte irgendwann wirklich jeder. Und so entstand die zweite Seite der Medaille „Kundenmedienmacht“ – nicht nur die Macht, den eigenen Empfang von Informationen weitestgehend zu kontrollieren, sondern vor allem auch die Macht, sehr selbstbewusst mit dem Senden, Verbreiten, Vermitteln und Diskutieren eigener Inhalte umzugehen. Und so ergibt sich, dass die Mehrheit der Menschen gewohnt sind und erwarten, dass es auf Fragen ihrerseits auch echte Antworten gibt, dass die digitalen Medien Plattformen bieten, über die man echten Austausch pflegen und sich gegenseitig informieren, instruieren, unterhalten, unterrichten kann.
Dabei ist der Austausch zu neuen Produkten, Projekten, Dienstleistungen und Angeboten ein selbstverständlicher Teil dieser Welt. Und die Kommunikation unter Freunden und Fremden darüber, ob ein Produkt gut oder schlecht ist, welche Veranstaltung einen Besuch lohnt und welche nicht, warum man dieses Angebot wahrnehmen und jenes ignorieren sollte, nimmt viel medialen Raum ein. Denn dank Globalisierung und weltweiter Konkurrenz werden die Märkte nicht übersichtlicher, sondern bleiben häufig schlecht durchschbar. Und so sind die Menschen immer stärker darauf angewiesen, sich gegenseitig einen Rat zu geben, zu unterstützen, zu warnen und zu informieren. Das tun sie durch schlichte Empfehlungen und Mundpropaganda, online wie offline. Sie tun es durch enorm viel Konversation und Kommunikation untereinander, bei der der Austausch auf Augenhöhe geschätzt wird, denn er erlaubt das Minimieren von Risiko und das Beschleunigen von Entscheidungen: wenn mir jemand anders von einer Produkterfahrung berichten kann, sinkt bei mit selbst das Risiko, eine Fehlentscheidung zu fällen und ich kann deswegen leichter und damit schneller entscheiden.
Und das Marketing? Wie soll das Marketing mit diesen Herausforderungen umgehen? Was müssen Unternehmen tun, wenn die Menschen völlig souverän darin geworden sind, einerseits den Zufluss von Information zu steuern, und andererseits die Abgabe von Meinungen und Inhalten an andere medial zu inszenieren?
Darum soll es dann in Teil 2 gehen.