Jochen hat kürzlich auf einen ausführlichen Blog-Post von Jeff Howe verwiesen, in dem es um Crowdsourcing geht und um die Frage, ob diese Prozesse letztlich dasselbe sind wir 'Sharecropping', also Ausbeutung von vielen "kleinen" Nutzern durch den einen Anbieter, der die Infrastruktur bereitstellt. Laut Howe sei das bei den meisten Web-Projekten ein unpassender Vergleich. Denn während in manchen unterentwickelten Märkten die ausgebeuteten Arbeiter in entsprechenden Situationen zum Überleben gar keine andere Wahl hätten, als ihren Lebensunterhalt in der Ausbeutungssituation zu verdienen, also gezwungen seien, könne man das bei Leuten, die Filme auf YouTube laden oder bei Qype Einträge schreiben, auf keinen Fall sagen. Das geschehe komplett freiwillig und ohne Zwang. Laut Jeff kann es also keine Ausbeutung geben, wo kein Zwang besteht.
Hinzu kommt ein zweiter Punkt: Wenn Leute fordern, dass die Nutzer einen Anteil an dem Geld bekommen sollten, das beim Verkauf von Flickr oder YouTube von den Betreibern eingenommen worden ist, sagt Howe, würde eine wichtige Sache außer Acht gelassen: dass nämlich jeder Nutzer von diesem Service bereits seine Entlohung bekommen hat: beispielsweise kostenloses Video-Hosting und die Möglichkeit, seinen Film nun potenziell jedem Menschen auf der ganzen Welt mit einer Internet-Verbindung zeigen zu können. Das ist die Entlohung und das ist auch der Grund, warum Menschen diese Dienste nutzen - nicht, weil sie Geld wollen, sondern weil sie sofort Nutzen daraus ziehen, der sie für die Anreicherung der Plattform kompensiert. Jeff sagt allerdings, dass es durchaus möglich ist, dass die Nutzer, die solche bereichernden Inhalte bereitstellen, in ihren Erwartungshaltungen immer anspruchsvoller werden könnten und daher unter Plattformanbietern schließlich doch ein Wettstreit darum ausbrechen kann, wie man die Nutzer am besten und effektivsten entlohnen muss. Solch eine Entlohnung müsse aber nicht unbedingt monetärer Art sein.
Ich sehe diesen Aspekt ähnlich, aber finde, dass Crowdsourcing damit zu eng definiert ist. Meiner Ansicht nach gehören doch auch alle die Prozesse hinzu, bei denen von einer größeren Anzahl Leuten kreativer oder anderer Input eingeworben und dann mit Gewinn an einen Auftraggeber verkauft wird. Wenn also die Moviebakery dazu einlädt, eine Werbeidee zu entwickeln, oder wenn es auf VisualOrgasm einen Wettbewerb für ein neues Design für einen Kunden gibt. Bei diesen Beispielen steuern die Leute ihr Material nicht bei, weil sie eine Plattform aus technischen Gründen nutzen wollen, sondern weil sie sich Anerkennung und Gewinn erhoffen. Da es sich meistens um einen Wettbewerb handelt, werden üblicherweise nur wenige monetär oder durch Sachgewinne entlohnt, die Gewinner nämlich. Die anderen machen so mit, weil sie sich einen Gewinn erhofft hatten, und weil es vielleicht weitere Faktoren gibt, die sie als Gewinn verbuchen (Anerkennung in einer Community, Erfahrung sammeln, etc.). Hier lässt sich die Frage meiner Ansicht nach nicht so leicht beantworten, denn die sofortige Entlohung, weil die Plattform mir als Mitmacher einen Direktnutzen bietet, gibt es so ja nicht. Das ist jedoch meiner Ansicht nach das eigentliche Crowdsourcing - die 'Crowd' wird als 'Source' gesehen, die man in Hinblick auf ein bestimmtes wirtschaftliches Ziel anzapft.
Zweitens kann ich eine interessante Erkenntnis beisteuern, die ich aus einer Veranstaltung an meiner Hochschule in der vergangenen Woche mitgenommen habe. Wir hatten einen Kurs, der Tipps und Hinweise dafür gegeben hat, wie man am besten ein wissenschaftliches Paper schreibt, das in einem international renommierten Wissenschaftsjournal angenommen und publiziert wird (ein wichtiger "Ritterschlag" für werdende Wissenschaftler). Zu Gast war auch der Herausgeber eines großen internationalen Marketing-Journals, der eine sehr interessante Sache erzählt hat. Er sagte, dass der Elsevier-Verlag - der weltweit größte Verlag für derartig spezialisierte Wissenschaftspublikationen, mit einem Marktanteil von 25% in dem Bereich - rund 90% seiner Mitarbeiter nicht bezahlen muss. Denn die Erstellung dieser Wissenschaftsjournals verläuft letztlich nach einem Crowdsourcing-Prinzip - den Begriff hat er nicht verwendet, aber ich finde ihn passend.
Die Autoren machen mit, weil sie sich durch eine Veröffentlichung Ruhm und Ehre erhoffen. (In manchen Fällen muss man für das Einreichen sogar Geld bezahlen.) Die Auswahl der Papers findet dann mittels eines sogenannten "Review-Prozesses" statt. Das bedeutet, dass etablierte Wissenschaftler die Papiere anonym bekommen, also ohne zu wissen, wer der jeweilige Autor ist. Sie müssen diese dann durcharbeiten und mit Feedback und Verbesserungsvorschlägen zurücksenden. Der Autor hat dann die Möglichkeit, das Paper zu überarbeiten, oder aber er wird abgelehnt und muss es anderswo probieren. Dieser Prozess kann recht lange gehen und mehrere Korrekturschleifen umfassen. (So kann die Veröffentlichung eines Papers zwischen 9 Monaten und mehreren Jahren dauern.) Auch die Reviewer, also die Wissenschaftler, die die Papiere bewerten und kommentieren, machen die Arbeit kostenlos, um Respekt in ihrer Community zu bekommen, um sich selbst zu verbessern, um weiter zu lernen, etc. Mit anderen Worten: die Wissenschaftsverlage arbeiten sehr erfolgreich mit Crowdsourcing. ;-)