Gehört eigentlich nicht zu Marketing mittels Mundpropaganda und Viral Marketing, aber: Schon den neuen Spiegel-Titel gesehen? Eine wirklich schön gelungene Begründungssammlung dafür, warum ich so gern in Berlin lebe. Anstatt jetzt meinen eigenen Text zu tippen, kann ich einfach die für mich relevantesten Stellen aus dem Titelartikel zitieren, denn besser kann ich das meiste ohnehin nicht sagen:
"Berlin ist heute eher Gemütszustand als Örtlichkeit. [...] Berlin ist die wahrscheinlich normalste Haupt- und Millionenstadt der Welt, was wiederum für viele Globetrotter eine Sensation bedeutet: Der Verkehr fließt, Leib und Leben sind auch um Mitternacht nicht in Gefahr, der Besuch in einem In-Retsaurant endet mit einer Rechnung, die in New York und London kaum für eine Vorspeise ausgereicht hätte. Berlin ist die leisteste und langsamste der Metropolen. Wer hat es schon eilig in einer Stadt, in der jeder zweite Einwohner von Arbeitslosengeld, Rente oder Hartz IV lebt? [...] Es sind die Künstler, Studenten, Lobbyisten und Politiker, die der Stadt das Großstadtleben einhauchen. Aber es ist eben kein kalter Atem, den sie verströmen. Nichts, was frösteln lässt. Nichts, was Angst verbreitet. Die Berliner Geruhsamkeit ist nach all den Jahrzehnten der Anspannung und Anmaßung die eigentliche Friedensbotschaft: Völker der Welt, strömt in diese Stadt!"
"An der Spree wird heute fast jeder im Schnellverfahren eingebürgert. Pariser oder Londoner ist man qua Geburt oder gar nicht. Als New Yorker gilt nur, wer an der Wall Street weit oben oder im Künstlerviertel Soho ganz unten gelandet ist. Wer nicht hip oder wenigstens drogenabhängig ist, darf mit der Aufmerksamkeit seiner Zeitgenossen nicht ernsthaft rechnen. Die Berliner Toleranz ist da deutlich größer, auch wenn sie, bei Licht besehen, eine besondere Form der Intoleranz ist. Jeder mault gegen jeden."
"Die Hauptstadt steht mit 61 Milliarden Euro in der Kreide, es ist eine solch unfassbare Summe, dass kein Berliner Politiker auch nur eine Ahnung davon hat, wie der Schuldenberg jemals wieder abgetragen werden kann. Aber womöglich verleiht genau das der Stadt diese schnoddrige Gleichgültigkeit, denn wer seine Probleme nicht lösen kann, lernt mit ihnen zu leben. Es ist eine Art Fatalismus. Armut ist kein Stigma in Berlin, sie ist der Normalzustand."
"Die miese Lage sorgt erstaunlicherweise nicht für trübe Stimmung. Vielleicht liegt es daran, dass das Leben fast nirgendwo so billig ist wie an der Spree. Berlin ist die Discount-Hauptstadt der westlichen Welt, die Metropole der Mini-Preise."
"Berlin ist dreimal so jung wie Paris und halb so groß wie Tokio, und doch strömen die Neugierigen aus allen Himmelsrichtungen immer weiter hierher, angezogen durch nicht viel mehr als die Idee, dass sich hier Entscheidendes abspielen könnte. Es ist eine Karawane aus Malern, Studenten, reichen Rentnern, Investoren, Lebenskünstlern, die in die Stadt der Theater und Museen aufgebrochen ist. Berlin macht es Neuankömmlingen einfach. Man braucht nicht viel, um sich zu amüsieren. Ein bißchen Charme, ein wenig Schnauze und ein gutgeschnittenes Hemd. Es gibt keine Absperrketten, die nach Reich und Arm trennen, keine roten Kordeln, die sorgfältig zwischen Akademie und Subkultur, Gesellschaftsadel und C-Sternchen unterscheiden. Kreativität zieht Kreativität nach sich, es muss am Ende nur eine solche Menge davon geben, die groß genug ist, um Anziehungskräfte zu entfalten. Niemand kann genau sagen, wann Atmosphäre in Wirtschaftskraft umschlägt."
"Nur in Berlin kann Nathalie Portman so ungestört durch Kreuzberger Boutiquen stöbern und George Clooney durch die Clubs der Stadt ziehen, ohne dass eine Fotografentraube ihn bedrägt. [...] Berlin bleibt cool. Die Stadt fühlt sich selbst als Star und ist angesichts einer Hollywood-Größe noch nicht aus dem Häuschen. 'Die Berliner rasten nicht aus, wenn sie mich auf der Straße erkennen', sagt Matt Damon."
Der Artikel steckt voller Widersprüche, die manchmal unsinnig erscheinen mögen. Aber so ist die Stadt. Sie steckt voller Widersprüche, die unsinnig erscheinen. Aber damit ist sie auch so offen und entspannt, für all jene, die Widersprüche mitbringen, die Widersprüche aushalten wollen oder können. Für alle, die anerkennen, dass das Leben voller Widersprüche ist. Zu Freunden, die mich besuchen - besonders, wenn sie aus einem anderen Land kommen - sage ich gern: Berlin ist die unwahrscheinlichste Stadt der Welt.
Der Spiegel schreibt viel und gern über alles was schlecht ist. Und das oft sicher zu recht. Auch in Berlin gibt es vieles, was man kritisieren, schlecht finden und dramatisieren kann. Besonders, wenn man in einer der behüteten Städte irgendwo weit im Westen in einer Redaktionsstube sitzt. Daher finde ich es umso schöner, dass sich die aktuelle Ausgabe zu dieser Liebeserklärung hinreißen lässt, an eine Stadt, in der Aufbruch kein Gedanke sondern tägliche Realität ist. Hier wird ständig irgendwohin aufgebrochen. Und wenn es nur der Asphalt ist, der wieder an irgendeiner Stelle neu aufgebrochen wird. Und da wir in Deutschland Aufbruch brauchen, immerwährenden Aufbruch - die Globalisierung lässt uns wenig andere Chancen -, ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass dieses große, unübersichtliche, zerfaserte und vielgesichtige Aufbruchslabor existiert und enorme Reize hat. Ich bedanke mich für den Artikel und kann nun wieder deutlich gelassener die Kritik an den Dingen hinnehmen, die es in Berlin zu kritisieren lohnt.