Das Thema Second Life macht ja derzeit gewaltig die Runde auf den Blogs, und die verschiedensten Unternehmen machen sich mittlerweile dort breit (via). Und auch wenn es mir eigentlich eher so geht wie Nico Lumma, der kürzlich schrieb, dass er für das Thema „irgendwie keine Begeisterung finden“ könne, dachte ich mir, dass ich mich damit im Zusammenhang mit Mundpropaganda und Marketing ja doch befassen müsste. Da kam gelegen, dass mich die Münchner Agentur Text100 für eine Podiumsdiskussion eingeladen hat. Bei der Gelegenheit habe ich mich um einen Kontakt zu den Leuten bemüht, die zur Text 100-Präsenz bei Second Life etwas sagen können. Pixelsebi hatte uns beim Berliner Barcamp unter anderem die Text100-Adresse dort gezeigt. (Dazu auch Klaus Eck.) Vergangenen Freitag sprach ich also mit Dr. Georg Kolb, der bei Text 100 in New York den satten Titel Executive Vice President Practices and Methodology trägt und mir freundlich und ausführlich Auskunft geben konnte. Daher ist es auch ein längerer Text geworden - um nicht zu sagen: Artikel. Wen das stört, der muss wohl leider dran vorbeiscrollen...
Frage: Mir geht es um Mundpropaganda und virales Marketing. Second Life ist eine virtuelle Welt, in der Gespräche stattfinden. Welche Motivation verfolgt Text100, in Second Life eine Präsenz aufzubauen?
Kolb: Einleitend würde ich gern festhalten, dass wir Second Life grundsätzlich nicht als Spiel, sondern als virtuelle Welt sehen. Es gibt kein Gaming Script, keine Charaktere, kein Spielziel. Die Benutzer bzw. Residents schaffen dort ihre eigenen Inhalte, Avatare, Umgebungen, Spiele und auch ihre Geschäfte. Selbst wenn es also auf Anhieb wie ein Online-Spiel erscheinen mag, weil es auf Technologie basiert, die aus einer Spieletradition kommt, ist es das aus unserer Sicht trotzdem nicht. Stattdessen sehen wir es eher als eine weitere Peer-to-Peer-Plattform – wir glauben, dass Second Life in diese Tradition von Internetplattformen gehört, die schon etwas älter ist, aber jetzt neuen Schub erhält. Diese Plattformen kennzeichnet, dass diejenigen, die ein Interesse teilen, darauf gemeinsam etwas machen können. Beispiele sind bestimmte Suchmaschinen, Blogs, Wikis, Peer-to-Peer Sharing-Seiten, oder Aggretatoren wie Digg, wo über Inhalte abgestimmt wird. Der Unterschied: Second Life ist dreidimensional, damit viel anschaulicher. Man kann andere in einer Umgebung treffen, auf die man sich einlassen muss. Also zusammenfassend: Second Life ist aus unserer Sicht kein Spiel, sondern eine P2P-Plattform.
Warum sollten wir da eine Präsenz haben? Für eine PR-Agentur ist jede neue Öffentlichkeit von grundsätzlichem Interesse. Und diese wächst sehr schnell, rd. 15 – 20% neue Residents pro Monat. Das würde bedeuten, dass Second Life im Sommer 2007 etwa 3-4 Mio Residents haben könnte, vielleicht wird diese Zahl auch schon früher erreicht. Damit wir unsere Kunden auch in diesem Bereich beraten können, wollten wir eine eigene Präsenz schaffen, nicht nur mit Avataren dort sein. So können wir aus erster Hand erfahren, wie das funktioniert, wie Unternehmen dort wahrgenommen werden.
Wir glauben, dass es vier Themenfelder gibt, die für Unternehmen in Second Life interessant sein könnten:
1) Education
2) Collaboration
3) Innovation
4) Marketing
Und diese Bereiche sind auch für uns selbst einsetzbar. Daher übern wir das heute schon, probieren aus. So haben wir Second Life zunächst intern genutzt: Im August haben wir unsere Präsenz eröffnet, da hatte die Agentur grade 25-jähriges Jubiläum. Wir hielten es für angemessen, die Jubiläumsfeier in SecondLife abzuhalten. Früher war es leichter, die Büros zu einer gemeinsamen Feier zusammen zu holen. Bei unseren 30 Büros weltweit ist es heute aber nicht mehr so einfach, globale Meetings einzuberufen. Wir haben dann eine Reihe von Jubiläumsfeiern in Second Life abgehalten. Es gab Vorträge vom CEO, Interviews mit den Gründern (sie sind heute nicht mehr im Unternehmen, aber sehr unterhaltsame Typen) wurden als Videostream in Second Life gezeigt. Wir haben getestet, wie man Videostreams macht, wie man Power Point zeigen kann, wie eine Bühnenpräsenz funktioniert, oder Versammlungen von Leuten – wenn alle zugleich chatten, wie geht das? Auf diese Weise konnten wir virtuelle Meetings interessanter und kommunikativer gestalten, es wird zu einem anderen Erlebnis. Gespräche auf diesem Weg sind näher dran an einer physischen Begegnung, als beispielsweise per Telefon oder E-Mail.
Frage: Würden Sie also sagen, dass Ihre Präsenz in Second Life heute so eine Art Real-Life Labor ist?
Ja, wir wollen das erstmal an uns selber ausprobieren, bevor wir mit Kunden darüber reden. Wir haben beispielsweise ein internes Trainingsprogramm – die Protocol University. Spezialisierte Trainer für einzelne Fachgebiete, die irgendwo auf der Welt sind und nicht leicht überall verfügbar sind, können nun weltweit arbeiten. Ein New Yorker Trainer kann auf diesem Weg auch in Astralien zur Verfügung stehen.
Aber erste Kundenprojekte gibt es auch: In diesem Blog-Post berichten wir darüber, wie wir für eine Stiftung, die Mac Arthur Foundation, eine Veranstaltung parallel im realen Leben und in Second Life organisiert haben – die Stiftung ist mit einem neuem Programm an die Öffentlichkeit gegangen, zur Forschung über digitales Lernen. Wir haben dabei geholfen, das Programm in den USA bekannt zu machen. Passenderweise wollten wir dazu in Second Life etwas machen. Viele Unis organisieren in Second Life mittlerweile Vorlesungen, und MacArthur möchte das näher untersuchen. Wir hatten dann eine Podiumsdiskussion in New York City, wo sich Lehr- und Lernexperten über diese Themen unterhalten haben. Parallel dazu gab es auch in Second Life eine Veranstaltung, und mittels Simulcast (Übertragung in Echtzeit) wurde jeweils die eine Veranstaltung der anderen gezeigt. Avatare in Second Life konnten auch Fragen an die Real Life Veranstaltung stellen. So konnten wir unter anderem veranschaulichen, wie man die Plattform nutzen kann, gerade auch, weil wir das internationale Publikum natürlich nicht komplett nach New York bringen konnten. Eine Bloggerin aus Bosten, die zum Liveblogging auf den Event eingeladen war, hat sich entschieden, anstatt nach New York zu kommen, lieber aus Second Life darüber zu bloggen. Im Publikum dort saß sie dann neben interessanten Leuten aus der ganzen Welt, online wurde also eine ganz ähnliche Dynamik wie bei dem echten Event angeregt.
Frage: Welche Möglichkeiten sehen Sie für das künftige Marketing in Second Life?
Man sollte dort Dinge machen, die nicht genau so wie im wirklichen Leben aussehen. Auch wenn das MacArthur-Projekt noch einen eher traditionellen Feel hatte, war es rein von der Organisation her innovativ. Wir hatten eine Art globale Bühne – und das war wesentlich anschaulicher als nur eine Telefonkonferenz. Aber man sollte eigentlich als nächstes eine Stufe weitergehen: Nehmen wir an, ein neues Produkt soll in Second Life eingeführt werden, anstatt im Real Life. In den USA ist es mittlerweile häufig üblich, Produkte anzukündigen, bevor sie verfügbar sind. Im virtuellen Leben kann man sie dann schon im dreidimensionalen Raum zeigen, vielleicht sogar den Prototypen dort noch weiterentwickeln. Modedesigner stellen neue Produkte dort z. B. zum Verkauf, bevor sie im richtigen Leben angeboten werden. Die Hotelkette Starwood baut derzeit einen neuen Hoteltyp: Aloft Hotels. Diese Hotels wird es ab 2008 geben, dort kann man sich das schon anschauen. Autohersteller beginnen damit, Autos in der virtuellen Welt vorzustellen, Nissan ist schon mit einer eigenen Insel in der virtuellen Welt präsent, wo man Autos Probe fahren kann. Hier wäre es interessant, auch Prototypen ausprobieren zu lassen. Heute crasht die Autoindustrie ihre Testfahrzeuge schon im Computer, das kann man hier ausdehnen, und dann Open Innovation machen: die Leute machen mit, im Sinne einer Open Source Innovation. Das kann man fast mit allen Produkten machen. Es sei denn, man braucht Geschmack oder Geruchssinn. Aber mittlerweile wird dort selbst gegessen und getrunken. Wenn schon nicht zur Ernährung, dann doch als soziale Geste.
Oder man entwickelt neue Formen der Zusammenarbeit – auch dafür kann man Second Life als Labor für virtuelle Teams nutzen. Nehmen wir eine Forschergruppe, die sich mit Affen beschäftigt. Die kann Meetings abhalten, die sich im virtuellen Dschungel abspielen. Jedes Thema kann in Second Life seine eigene Umgebung bekommen, die auf das Thema angepasst wird. Archäologen versetzen sich ins alte Ägypten, Architekten in ihre eigenen Gebäude. Ich bin grade erst umgezogen, es wäre toll gewesen, vorher ein 3-D-Modell des eigenen Hauses dort gesehen zu haben, in dem man die Möbel schon mal anordnen könnte. Erste Versuche werden bereits damit unternommen, Objekte zu fotografieren, die man dann in SL verwenden kann. Das ist nicht mehr so weit weg.
Frage: Würden Sie sagen, dass Second Life in den USA mittlerweile zu einem Mainstream-Thema wird?
Die Entwicklung hat derzeit eine ähnliche Kurve wie bei den Blogs damals. In den USA war das Wort „Blog“ Wort des Jahres 2004. Mittlerweile haben 10% aller US-Unternehmen Corporate Blogs. In Deutschland liegen wir da noch etwas weiter hinten auf der Entwicklungskurve. Bei Second Life ist das ähnlich – derzeit gibt es dazu einen richtigen Hype, speziell seit es Artikel in Business Week und der New York Times gab. Danach hatte Linden Labs beinahe einen Serverzusammenbruch, weil sich teilweise pro Tag bis zu 50.000 z. T. neue User angemeldet haben. Also hier ist das grade ein Hype. Es gibt viele Unternehmen, die da ganz schnell hin wollen, jeder, der da was macht, bekommt öffentliche Aufmerksamkeit. Aber es wird noch eine Weile dauern, bis man über den Hype hinaus ist und weiß, wie man das längerfristig erfolgreich einsetzen kann. Dafür muss sich die Plattform vor allem noch weiter verbessern.
Frage: Die Blog-Parallele klingt spannend, denn wenn das hier ähnlich abläuft, müssten wir uns auf den entsprechenden Hype hierzulande in vielleicht 18 Monaten einstellen... Allerdings stellt sich mir eine andere Frage: die Blogs profitieren natürlich davon, dass sie letztlich als einfache Internetseiten, also basierend auf einem offenen Standard, daherkommen. Das ist bei Second Life anders, es ist eine geschlossene Plattform, die von einem Unternehmen kontrolliert wird. Wie sieht es also mit Konkurrenz aus, und mit dem Entstehen einer wirklichen Öffentlichkeit?
Diese Frage berührt eine ganze Reihe interessanter Aspekte. Zunächst zur Frage des Eigentums: Bei allem, was man in Second Life macht, liegen die Urheberrechte nicht bei Linden Labs. Das Unternehmen tritt sozusagen nur als virtueller Immobilienmakler auf, man kauft bei denen Land. Was man dort dann macht, ist komplett die eigene Sache, man erwirbt also auch eigene Rechte. Gerade deshalb ist Second Life eben auch kein Spiel, und dieser Umstand ist auch die Grundlage für die wirtschaftliche Arbeit dort. Schon jetzt gibt es monatliche Transaktionen in Höhe von rd. 7 Mio. US-$. Was die Plattform selbst betrifft – es ist in der Tat eine proprietäre Plattform, die nicht offen und kompatibel mit anderen Standards ist, und damit auch nicht mit dem Web verknüpfbar. Das ist sicher die größte Herausforderung. Linden Labs müssen so schnell wie möglich dafür sorgen, dass daraus eine offen Plattform wird. Das wollen die Linden Lab-Leute auch – daraus eine Open Source Sache machen. Andere Plattformen gibt es auch, die werden aber bislang weniger gehypt. Sie könnten allerdings auch interessant sein, und es ist noch überhaupt nicht sicher, wer hier siegt. Klar ist: Virtuelle Welten müssen offen werden, offene Standards haben.
Zur Frage, wie die Interaktion in diesen offenen Räumen definiert ist: Auf seinem eigenen Second Life-Grundstück kann man eigene Regeln festlegen, aber von Linden Labs selbst gibt es nur sechs Grundregeln, Rules of Engagement in sehr simpler Form. Wer dagegen verstößt, kann von der Plattform ausgeschlossen werden. Da ist aber noch vieles offen und noch zu entwickeln. Das liegt auch daran, dass gerade Unternehmensaktionen auf dieser Plattform potenziell zahllose nationale Rechtsnormen berühren, d.h. wenn man hier beispielsweise Spiele organisiert, bei denen es etwas zu gewinnen gibt, muss man sich schon mal sehr intensiv mit Rechtsanwälten über internationales Recht zu Online Games austauschen. Also auch im rechtlichen Bereich ist das in jedem Fall Pioniergebiet.
Linden Lab hält sich da weitgehend raus, solange es nicht an die sechs Grundregeln rührt. Das Unternehmen ist dabei recht reaktionsfreudig und offen. Aber sie haben ja selbst großes Interesse daran, dass sich die Community reibungsfrei weiterentwickeln kann, sie lassen den Leuten daher recht freie Hand.
Frage: Vielen Dank für das Gespräch.