Neulich habe ich schon mal kurz darauf hingewiesen, heute wollte ich noch ein paar mehr Zeilen zu Chris Andersons Buch 'The Long Tail' schreiben und dazu, warum die Mundpropaganda im Web an Bedeutung gewinnt.
Welche Idee steckt hinter 'The Long Tail'? (Und auch hinter dem Wired-Artikel, der eigentlich die Keimzelle für das Buch war?) Anderson entwickelt zunächst eine Art wirtschaftskulturelle Theorie, welche aus seiner Sicht erklärt, warum unsere Vorstellung von Erfolg ganz besonders geprägt ist: Weil aus rein physikalischen Gründen jedes Regal und jeder Verkaufsraum begrenzt ist und deswegen Geld kostet, müssen Wirtschaftsunternehmen ihre ganze Arbeit auf Hits ausrichten, also auf deutlich überdurchschnittlich erfolgreiche Produkte. Denn nur diese Produkte werden oft genug verkauft, um auch ordentlich Geld reinzuspielen, was dabei hilft, die Verkaufsfläche (und alles drumherum) zu finanzieren. Und so kommt es, dass unser gesamter Wirtschaftskreislauf darauf ausgerichtet ist, Hits (extrem gut verkäufliche Produkte) zu finden und Nieten (weniger gut verkäufliche Produkte) auszusortieren.
Was ändert sich nun durch das Internet? Die entscheidende Veränderung ist, dass Verkaufsraum plötzlich kaum noch Geld kostet, oder zumindest sehr viel weniger. Bei digitalen Produkten ist das ganz leicht zu verstehen - es kostet für iTunes kaum zusätzliches Geld, noch einen weiteren Song (oder 100 weitere Songs!) ins Repertoire aufzunehmen. Das bißchen Serverplatz ist mittlerweile spottbillig geworden. Wenn ein stationärer Plattenladen, der schon voll ausgelastet ist, noch 10 weitere CDs ins Angebot aufnehmen will, muss er, im Extremfall, anbauen. Das wird in den seltensten Fällen passieren. Also sortiert er aus und nimmt nur noch... genau: die Hits. Aber auch bei physischen Produkten gilt diese Veränderung zu einem gewissen Grad. Es ist für Amazon deutlich leichter, eine neue Warengattung einzuführen als für ein stationäres Warenhaus. Unter anderem, weil Amazon die Waren gar nicht bei sich selber im Lager horten muss, sondern die meisten Dinge in Kommission verkauft. D.h. andere übernehmen die Lagerkosten. Noch extremer bei Ebay: Das Unternehmen lagert überhaupt nichts selbst, kann also prinzipiell alles verkaufen. Und tut das ja auch.
Für das Marketing und allgemein für das Wirtschaften bedeutet das, dass die (Web-)Unternehmen nun nicht mehr auf die Hits allein fokussiert zu sein brauchen. Sie können mittlerweile zusätzlich alles andere anbieten und ebenso verkaufen, denn es kostet ja kaum zusätzliches Geld. Nun wird manch einer einwenden: "Aber den anderen Kram will doch gar keiner haben - das interessiert doch niemanden!" Und hier zeigt Anderson, dass genau das nicht stimmt. Ganz unterschiedliche Unternehmen, mit denen er gesprochen hat - Amazon, Rhapsody, Netflix, iTunes - haben ihm alle bestätigt, dass aus ihrem riesigen und scheinbar völlig unüberschaubaren Angebot grundsätzlich über 90% aller Produkte, die sie überhaupt je anbieten, mindestens schon einmal gekauft wurden! (Apple hat ihm 2004 erklärt, dass zum damaligen Zeitpunkt jeder einzelne Song in deren Programm, damals etwa 1 Million Stücke, schon mindestens einmal verkauft worden sei.)
Nun mag man denken "Naja, einmal, das bringt doch nichts!" Eben doch: wenn man eine Million unterschiedliche Produkte, die alle nur einmal verkauft werden, für jeweils 0,99 cents verkauft, dann hat man 990.000 € Umsatz gemacht! Und wenn die zusätzliche "Lagerkosten" für diese Produkte kaum etwas gekostet haben, dann ist das ein ganz erstaunlicher Zusatzverdienst, den man da mit Produkten machen kann, die in den normalen "physischen" Geschäften niemals verkauft worden wären, weil einfach die Kapazität gar nicht dafür da wäre. Und genau das ist der Long Tail - der lange "Schwanz" an unzähligen Produkten, Projekten, Ideen, die alle keine Hits sind, die aber im Internet extrem kostengünstig jedem angeboten werden können: "A Long Tail is culture unfiltered by scarcity."
Und so heißt der Untertitel des Buches auch: "How Endless Choice Is Creating Unlimited Demand" - Anderson sagt letztlich, dass sich heute für enorm viele Produkte eine Nachfrage finden lässt, und sei sie noch so klein.
Was hat das nun mit Mundpropaganda zu tun? Laut Anderson sind drei Kräfte notwendig, damit der Long Tail ausgebaut werden kann: Zum einen müssen die Produktionsmethoden demokratisiert werden, damit möglichst viele Leute mitmachen und ihren Beitrag zum Long Tail leisten können (in dem Bereich passiert ja gerade mit den PCs in Bezug auf Medienproduktion unglaublich viel). Zum zweiten müssen die Verteilungsmechanismen demokratisiert werden, damit möglichst viele Leute ihre Beiträge auch tatsächlich anbieten können (und hier ist ja das Web ein enormer Demokratisierungsfaktor). Und drittens, und hier kommen wir zur Mundpropaganda, muss dieses enorme Angebot mit der Nachfrage vernünftig verknüpft werden, damit die Leute auch den Weg in die vielen neuen Nischen finden. Und das gelingt letztlich nur noch, wenn die Leute einander gegenseitig den Weg durch das riesige Angebot weisen können.
Kein Apple-Mitarbeiter kann die enorme Zahl der Songs, die es auf der iTunes-Plattform gibt, noch vernünftig kategorisieren und sortieren. Kein Journalist kann das YouTube-Angebot noch vernünftig sichten. Kein Amazon-Mitarbeiter kann das gesamte Angebot des Unternehmens noch überschauen und Empfehlungen abgeben. Dies gelingt nur noch, weil wir uns gegenseitig weiterhelfen. Etwa nach folgendem fiktivem Beispiel: mir wird von einem Kollegen ein Buch bei Amazon empfohlen, ich sehe mir die entsprechende Seite an und gelange über "Andere Leute, die dieses Buch gekauft haben, haben auch ... gekauft" in eine andere Ecke von Amazon, entdecke dort eine DVD, die einem Freund gefallen könnte, schicke ihm den Link dazu, er postet ihn auf seinem Blog, wieder jemand anders findet darüber noch etwas anderes, und so weiter. Indem wir also auf explizite Empfehlungen von Freunden (Mundpropaganda im klassischen Sinn) reagieren (und selber welche aussprechen), bzw. durch maschinell generierte (indem Amazon und andere Shops die verschiedensten nutzergenerierten Top-Listen anbieten oder Empfehlungen in der oben beschriebenen Art und Weise darstellen), gelingt es uns, durch das unüberschaubare Angebot zu navigieren, immer wieder interessante Dinge zu finden und mit anderen zu teilen.
Nur durch die menschlichen Filterfunktionen (außerdem natürlich durch maschinelle, von Google beispielsweise, die aber letztlich auch auf den menschlichen Verlinkungsmustern im Netz basieren) kann der Long Tail für den Suchenden auch ein Finden ermöglichen. Nur durch die Mundpropaganda kann das alles Sinn stiften und nicht nur Verwirrung. Während die Mundpropaganda für den Short Tail (also die Hits, die es natürlich künftig weiter geben wird, allerdings weniger davon!) wichtige Effekte bewirkt, ist sie für den Long Tail zwingend notwendig.
Oder anders gesagt: die Killer Application des Web 2.0 ist Mundpropaganda.
(Wer mit Anderson diese Dinge direkt diskutieren will, kann das übrigens auf seinem Blog tun - der war auch schon wichtiges Instrument des Austausches in der Entstehungsphase des Buches.)
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