Derzeit diskutiere ich mit einem Kollegen den Unterschied zwischen alter und neuer Online-Welt (also letztlich Web 1.0 vs. Web 2.0). Entstanden ist die Diskussion anhand des ersten Entwurfs eines Artikels, den ich für den demnächst erscheinenden „Leitfaden Integriertes Marketing“ von Dr. Schwarz geschrieben habe. (Artikelentwurf hier als PDF, die endgültige Fassung werde ich nach Absprache mit Herrn Dr. Schwarz demnächst hier ebenfalls veröffentlichen können.) Folgend ein etwas überarbeiteter Auszug aus unserem „E-Mail-Gespräch“. Dabei gehe ich auf die Thesen oder Fragen des Kollegen aus seiner letzten Mail ein:
Kollege: Aktuell liegt der Schwerpunkt mehr auf dem generellen Internet-getriebenen Paradigm-Shift, der für erfahrenere Onliner und Marketer keinen grundsätzlich neuen Ansatz mehr darstellt.
Meine Antwort: Das sehe ich ein wenig anders. Klar, genug Onliner haben sich mit dem Web weiterentwickelt. Aber es gibt auch viele erfahrene Onliner "der letzten Generation", die nie über eine "Wir der Sender, Ihr der Empfänger"-Mentalität hinausgekommen sind, sie sind mental immer noch eine Art Internet-Neandertaler (Siehe Peter Kabel. Man braucht sich nur mal anzusehen, welche Thesen er kürzlich beim Medienforum NRW vertreten hat.). In welcher Weise delicious, Wikis, Blogs und das allmächtige Goolge die aufwändig gestrickten Flash-Sites in den vergangenen zwei bis drei Jahren z. T. komplett ad absurdum geführt haben, ist doch vielen "erfahrenen Onliner" - zumindest hierzulande - noch nicht ansatzweise klar. Dialog muss heute echt sein, mit Rede, Gegenrede, Widerspruch und Transparenz. Für viele "erfahrene Onliner" ist Dialogmarketing dagegen immernoch das Sammeln von Adressen, um anschließend Leute per (Papier-)Post mehr oder weniger gut bespammen zu können.
Fraktale Marke, Prosuming, Communities, User Generated Content, 1:1 waren die Buzzwords der 90er. Heute ist es Web 2.0.
Absolut. Der entscheidende Unterschied - letzteres passiert heute tatsächlich, während das, was in den 90ern Buzzword war, damals auch genau das blieb: Buzzword, mehr nicht.
Wo ist der inhaltliche Unterschied, gibt es keinen, oder ist es eine Rekombination der Ansätze?
Sowohl als auch. Geblieben ist: Das Internet erlaubt den Leuten, sich nach Interessen zusammenzufinden, auf Plattformen, die Interaktion erlauben. Das war ja der große Traum der 90er: die Leute finden sich da zusammen, wo ihr relevanter Content ist. D.h. das Targeting der entsprechenden Werbung und direkt im Anschluss Sales (also sofortige "Conversion", damit harte Messbarkeit) sind kein Problem mehr. Dazu kommt, dass das Internet jetzt deutlich verbreiteter und außerdem breitbandiger ist als damals, dass also viele Heilsversprechen jetzt erst eingelöst werden können. Anders ist: ich glaube, dass kaum jemand voraussehen konnte, zu welch hohem Grad die Internetnutzer daran interessiert sind, selber Content herzustellen. Das Ausmaß, mit dem gebloggt, gepodcastet, ge-youtubed, ge-was-weiß-ich-nicht-alles wird, ist schon erstaunlich. Und genau damit hängt zusammen, dass die enormen Marketingausgaben, die in den 90ern für die Verbreitung dieser "Produkte" aufgewendet wurden, nicht mehr nötig sind - die Konsumenten erzeugen so viel Content im Netz und sorgen für so viel Verbreitung, dass die Online Mundpropaganda heute hilft, profitabel zu sein, wo die massiven Marketingausgaben damals ins Leere geführt haben. Zweitens: Google gibt diesen Tätigkeiten eine potenziell globale Reichweite, ist letztlich ein deutlich stärker demokratisiertes Medienportal, als das damals abzusehen gewesen wäre. Drittens: Damals haben viele von Relationship Marketing geredet, aber eigentlich Direkt Marketing gemeint. Heute wird es zur zwingenden Notwendigkeit, wirkliche Beziehungspflege im Netz zu betreiben, denn die Leute sind immer weniger bereit, den ganzen Werbemüll zu akzeptieren. Sie wollen, wie oben gesagt, echten Austausch. Wenn sie ihn nicht bekommen, dann schimpfen sie. Und das hat Wirkung.
Warum haben diese Ansätze heute eine bessere Diffusionschance?
Breitband, Google und dessen Wisdom-of-the-crowds-Algorhythmus, stark vereinfachte und verbilligte Software (schon mal Wordpress benutzt? ;-) vor allem dank Open Source, dramatisch gefallene Server/Infrastruktur-Kosten. Und eben, wie oben gesagt, die Kommunikationsaktivität aller Nutzer, die für virale Marketingeffekte sorgt.
... oder brauchte es dafür schlicht nur eine gewisse kritische Masse an Onlinern und Online-Nutzung? (bzw. sind Blogs nur das Instrument en vogue? Oder hätte es 1997 mit Foren und Mailinglists die gleiche Konsumentenpower geben können, wenn es so viele Onliner wie heute gegeben hätte?)
Das mit der kritischen Masse ist sicher wichtig, um die Online-Mundpropaganda richtig wirken zu lassen. Dazu kommt aber vor allem die Dezentralisierung, Demokratisierung und Verbilligung durch das Open Source Movement und durch billigen Webspace, etc. Außerdem nochmal: Google. Das konnte man 1997 so noch nicht absehen. An Blogs ist dazu eine Sache anders, die Mailinglisten oder Foren so nie hätten leisten können: Blogs sind eine archivierbare Möglichkeit, das eigene Ego im Netz evolvierend zu gestalten. Das hat enorme Anziehungskraft für viele Leute, es ist ein eigenes Zuhause im Netz, das sowohl (potenzielle) Medienöffentlichkeit erlaubt, dabei unter der Kontrolle des jeweiligen Betreibers steht UND Austausch und Dialog unterstützt.
Was lässt sich aus den Cases zusammenfassend lernen? Wo liegen die übergreifenden gemeinsamen Hebel hinter den konkreten Umsetzungen? Und v.a. was sind dann die konkreten Implikationen, die heute im Marketing berücksichtigt werden müssen? (Z.B. für die Marketingorganisation, für das strategische und operative Marketingmanagement, für die Ausgestaltung des Marketing-Mix bzw. der Kanäle, für’s Marketingcontrolling... etc.?)
Alle Cases (im PDF) arbeiten mit der explizit gewünschten Partizipation der Nutzer. Aber sie machen dort nicht halt, sondern gehen noch einen Schritt weiter und schaffen das, was man auf englisch schön "consumer empowerment" (Artikel dazu, PDF, englisch) nennen kann: sie verschieben einen Teil der (Marketing-)Macht an die Abnehmer/Konsumenten. Die Ausgestaltung der Mitwirkung (ihre Tiefe, Breite) muss entsprechend der jeweiligen Situation der Marke organisiert werden. Dazu ist dieses Chart von Ross Mayfield hilfreich. An der Kurve kann man sich entlang hangeln, um das Niveau der Partizipation zu finden, das zum eigenen Projekt bzw. Produkt passt. Strategisch ist die Partizipation bei Marketingmaßnahmen allerdings nur ein erster Schritt: mittel- bis langfristig werden sich alle Unternehmen immer weiter ihren Märkten öffnen, ob im Marketing-, Innovations-, Human Ressources- oder sonstwelchem Management. Zur Illustration: Eine kürzlich erschienene Ausgabe der Harvard Business Review (März 2006) ist voll mit Artikeln zu "Market Driven Innovation". Schon seit einer Weile ist bekannt, dass Innovationsmanagement besser funktioniert, wenn man den Markt daran beteiligt. Das heißt aus meiner Sicht, dass das Marketing ein erstes nützliches Spielfeld ist, auf dem Marken den Open Source Ansatz üben können ... sollten ... müssen.
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